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Theologische und Religionswissenschaftliche Fakultät

«Jetzt hört ihr mir zu!»

Antijüdische Polemiken im 12. Jahrhundert und eine jüdische Antwort

In aktuellen politischen Diskursen werden «die Anderen» oftmals zur Selbstvergewisserung, Abgrenzung und Identitätsbildung benutzt. Sie selbst kommen dabei meist kaum zu Wort. Wie ist damit umzugehen, wenn immer nur über und nie mit Minderheiten gesprochen wird, und womit ist zu rechnen, wenn die Ab- und Ausgegrenzten dann doch das Wort ergreifen? Ein Blick auf den Umgang der christlichen Mehrheit mit der jüdischen Minderheit im Mittelalter verspricht: kaum Gutes und einen Lichtblick.

Von Maria Lissek

Artikel aus dem Magazin facultativ 2024

«Frauen liegt die Fürsorge einfach näher», «Er isch ebe ä Jud», «Zieh den Rock aus – du bist ein Junge!» – Menschen, die aufgrund ihrer Religion, Hautfarbe, Herkunft, geschlechtlichen oder sexuellen Identität einer oder mehreren Minderheiten angehören, dürften diese oder ähnliche Aussagen wohlbekannt sein. Dem Gegenüber zu sagen, wie es ist, um durch Abgrenzung die eigene Identität zu stärken, ist ein bekanntes Phänomen. Demgegenüber setzen sich Angehörige von Minderheiten aber auch zur Wehr – denken wir hier beispielsweise an die Frauenbewegung und den alljährlichen Frauenstreiktag am 14. Juni, an den queeren Pride-Monat Juni oder Initiativen wie #metoo oder #blacklivesmatter. Diese und ähnliche Vorstösse haben gemeinsam, dass Minderheiten sich nicht mehr von anderen sagen lassen, wer sie sind, was sie wollen und womit sie sich zufriedengeben sollen. Sie wollen gesehen und gehört werden. Dafür rufen sie der Mehrheitsgesellschaft zu: «Jetzt hört ihr uns zu!»

Das Judentum als präsente Minderheit: Auf der Karte sind mittelalterliche Orte mit jüdischen Siedlungen dargestellt. Obgleich kein ‹echter› Dialog zwischen Christ:innen und Vertretenden des Judentums auf Augenhöhe stattfand, gab es im Alltag und der Lebenswelt Berührungspunkte der beiden Religionen. Christliche Autoren verarbeiten diese Begegnungen in anitjüdischen literarischen Dialogen. (Bild aus: Anna Sapir Abulafia (2011): Christian-Jewish Relations 1000–1300. Pearson, S. xx–xxii)

Die Gegenwart in der Geschichte

Die eigene Identität durch Abgrenzung zu konstruieren, ist wahrlich kein (post-)moderndes Phänomen. Ein Blick in die christlich-jüdische Geschichte zeigt: Andersheit und Fremdheit des jüdischen Gegenübers evozierte viele Ausgrenzungsmechanismen, die mitunter gewaltvoll endeten. Das Mittelalter bietet hier zahlreiche Episoden einer christlichen Schuldgeschichte: das Erwerbsleben von jüdischen Menschen wurde eingeschränkt, sie wurden aus Städten wie Zürich und Bern vertrieben und es wurden sogar Pogrome an ihnen verübt, weil ihnen z. B. vorgeworfen wurde, Wucher zu betreiben oder für die Pest verantwortlich zu sein. Wie heute war auch das mittelalterliche Judentum eine Minderheit. Ihren Angehörigen wurde damals von der christlichen Mehrheitsgesellschaft auf verschiedene Weise vermittelt, wie sie seien, was sie so dachten, wo ihr Platz in der Welt und der Heilsgeschichte sei sowie was sie deshalb tun sollten und nicht machen dürften. Davon zeugen zahlreiche literarische Dialoge aus christlicher Feder.

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Weiterführende Informationen

facultativ 2024

facultativ ist das Magazin der Theologischen und Religionswissenschaftlichen Fakultät (TRF) der Universität Zürich. Es erscheint einmal jährlich als Print- und Online-Ausgabe. Printexemplare werden als Beilage des Magazins bref verschickt und können über das Dekanat der Theologischen und Religionswissenschaftlichen Fakultät (Kirchgasse 9, Zürich) kostenlos bezogen werden.

Die Print-Ausgabe des facultativ 2024 erscheint am 11.10.2024.