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Theologische und Religionswissenschaftliche Fakultät

Dystopie und Utopie in virtuellen Welten

Videogames können den Unterricht bereichern und Perspektiven öffnen

Der Blick in die Zukunft ist oft düster: Dystopische Szenarien haben Hochkonjunktur und Weltuntergangsszenarien dominieren den öffentlichen Diskurs. Um diesen bedrohlichen Aussichten zu begegnen und sie zu relativieren, ist es wichtig, sich den Zusammenhang der unterschiedlichen Realitäten unserer Gegenwart und der verschiedenen Zukünfte, die uns bevorstehen, bewusst zu machen. Das Eintauchen in fremde Lebenswelten verändert auch den Blick auf die Zukunft und kann zu neuen Einsichten führen – sei es im Gespräch mit anderen oder durch das Erforschen virtueller Welten.

Von Yves Mühlematter

Artikel aus dem Magazin facultativ 2024

Wie wir uns die Zukunft vorstellen, wird massgeblich von unseren sozialen Beziehungen, den Medien, die wir konsumieren, und den epistemologischen Voraussetzungen, auf die wir uns verlassen, beeinflusst. Unsere «Bubbles» unterscheiden sich deutlich. Man könnte sogar behaupten, dass wir Menschen in unterschiedlichen Realitäten leben. Die folgende Erzählung soll diesen Punkt verdeutlichen:

Bildbeschreibung: Aus dem Blickwinkel einer Person, die auf der Treppe sitzt, blicken wir über das (simulierte, KI-generierte) Ufer des Ganges mit Tempeln auf der rechten Seite, kleinen Booten auf dem Wasser. Auf der Treppe sitzen weitere Personen mit typisch indischer Kleidung, ausserdem ist eine Kuh zu sehen. Die Person, aus deren Blickwinkel wir die Szenerie sehen, hält eine rote Ton-Tasse mit einem hellbraunen Getränk in der Hand.
Auch wenn sie sich am selben Ort aufhalten, leben Menschen in unterschiedlichen Realitäten und blicken in verschiedene Zukünfte. Neue Technologien können dabei helfen, über den Tellerrand zu blicken. Im KI-generierten Bild blickt der Chai-trinkende Autor auf einen virtuellen Ganges. (Bild: DALL-E, Eingabe: «View from behind of a person sitting at the Ganges River at Assi Ghat in Varanasi, holding a typical clay cup with chai in it, looking towards the river»)

Es ist morgens um 7.00 Uhr, die Sonne ist gerade über dem Ganges in Varanasi aufgegangen. Ich gehe wie jeden Morgen während meines Forschungsaufenthalts entlang des Assi Ghats, hole mir beim Chai-Vala einen Chai und schlendere in Richtung Gangesufer auf dem Weg zum Archiv, in dem ich forsche. Am Strassenrand sitzt eine Mutter mit ihren drei Kindern. Ihre Kleider sind dreckig, sie sehen hungrig aus. Vermutlich haben sie draussen geschlafen. In Nordindien bedeutet das im Dezember, dass sie die Nacht bei 5–10°C verbracht haben. Die Lumpen, auf denen sie sitzen, haben ihnen als Decken gedient. In diesem Moment, als ich sie anschaue und bewusst wahrnehme, überkreuzen sich unsere Realitäten. Oder anders ausgedrückt: Die Wahrnehmung dieser Familie dringt für einen kurzen Moment in mein Bewusstsein ein und führt zu einer Störung meiner Realität. In diesem kurzen Moment, in dem sich unsere Realitäten überschneiden, wird die radikale Differenz unserer Lebenswelten offensichtlich. Was für mich eine flüchtige Beobachtung ist, bedeutet für diese Familie das tägliche Überleben. Diese kurze Störung meiner Realität zeigt, wie unterschiedlich unsere Zukünfte sein können. Ich gehe weiter und sippe an meinem Chai. Die Begegnung rückt in den Hintergrund meiner Gedanken. Welche Zukunft haben sie sich wohl damals vorgestellt? In welcher Realität lebt die Familie wohl heute? Das kann nicht mit Sicherheit beantwortet werden, was aber klar ist: Meine Realität unterscheidet sich massiv von ihrer.

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Weiterführende Informationen

facultativ 2024

facultativ ist das Magazin der Theologischen und Religionswissenschaftlichen Fakultät (TRF) der Universität Zürich. Es erscheint einmal jährlich als Print- und Online-Ausgabe. Printexemplare werden als Beilage des Magazins bref verschickt und können über das Dekanat der Theologischen und Religionswissenschaftlichen Fakultät (Kirchgasse 9, Zürich) kostenlos bezogen werden.

Die Print-Ausgabe des facultativ 2024 erscheint am 11.10.2024.