Navigation auf uzh.ch
Der Blick in die Zukunft ist oft düster: Dystopische Szenarien haben Hochkonjunktur und Weltuntergangsszenarien dominieren den öffentlichen Diskurs. Um diesen bedrohlichen Aussichten zu begegnen und sie zu relativieren, ist es wichtig, sich den Zusammenhang der unterschiedlichen Realitäten unserer Gegenwart und der verschiedenen Zukünfte, die uns bevorstehen, bewusst zu machen. Das Eintauchen in fremde Lebenswelten verändert auch den Blick auf die Zukunft und kann zu neuen Einsichten führen – sei es im Gespräch mit anderen oder durch das Erforschen virtueller Welten.
Von Yves Mühlematter
Artikel aus dem Magazin facultativ 2024
Wie wir uns die Zukunft vorstellen, wird massgeblich von unseren sozialen Beziehungen, den Medien, die wir konsumieren, und den epistemologischen Voraussetzungen, auf die wir uns verlassen, beeinflusst. Unsere «Bubbles» unterscheiden sich deutlich. Man könnte sogar behaupten, dass wir Menschen in unterschiedlichen Realitäten leben. Die folgende Erzählung soll diesen Punkt verdeutlichen:
Es ist morgens um 7.00 Uhr, die Sonne ist gerade über dem Ganges in Varanasi aufgegangen. Ich gehe wie jeden Morgen während meines Forschungsaufenthalts entlang des Assi Ghats, hole mir beim Chai-Vala einen Chai und schlendere in Richtung Gangesufer auf dem Weg zum Archiv, in dem ich forsche. Am Strassenrand sitzt eine Mutter mit ihren drei Kindern. Ihre Kleider sind dreckig, sie sehen hungrig aus. Vermutlich haben sie draussen geschlafen. In Nordindien bedeutet das im Dezember, dass sie die Nacht bei 5–10°C verbracht haben. Die Lumpen, auf denen sie sitzen, haben ihnen als Decken gedient. In diesem Moment, als ich sie anschaue und bewusst wahrnehme, überkreuzen sich unsere Realitäten. Oder anders ausgedrückt: Die Wahrnehmung dieser Familie dringt für einen kurzen Moment in mein Bewusstsein ein und führt zu einer Störung meiner Realität. In diesem kurzen Moment, in dem sich unsere Realitäten überschneiden, wird die radikale Differenz unserer Lebenswelten offensichtlich. Was für mich eine flüchtige Beobachtung ist, bedeutet für diese Familie das tägliche Überleben. Diese kurze Störung meiner Realität zeigt, wie unterschiedlich unsere Zukünfte sein können. Ich gehe weiter und sippe an meinem Chai. Die Begegnung rückt in den Hintergrund meiner Gedanken. Welche Zukunft haben sie sich wohl damals vorgestellt? In welcher Realität lebt die Familie wohl heute? Das kann nicht mit Sicherheit beantwortet werden, was aber klar ist: Meine Realität unterscheidet sich massiv von ihrer.