Navigation auf uzh.ch

Suche

Theologische und Religionswissenschaftliche Fakultät

Wenn guter Rat auch gute Tat ist

Eine muslimische Alltagspraxis zwischen Wissensvermittlung, Fürsorge und Hierarchie

Auch wer keinen Rat sucht, wird des Öfteren ungefragt damit bedacht. Dabei geht es nicht immer (nur) darum, Schlechtes abzuwenden und Gutes zu schaffen, sondern auch um die soziale Positionierung von Ratgebenden und Ratempfangenden. Das trifft auch auf die muslimische Praxis des nasiha-Gebens zu. Hier kommt allerdings noch hinzu, dass man mit einem guten Rat Gott gerecht werden und jenseits institutioneller Autoritäten religiöses Wissen vermitteln kann.

Von Dominik Müller

Artikel aus dem Magazin facultativ 2024

Als ich Vater wurde, waren sie plötzlich da: die gut gemeinten Ratschläge. Sie kamen oft aus erwartbaren, manchmal aber auch aus ungeahnten Ecken des Panoptikums der Fürsorge – von (Schwieger-)Eltern, Verwandten, Freund:innen, Nachbar:innen oder sogar von freundlich gesinnten Fremden im Bus. Oftmals waren solche Ratschläge hilfreich und zeugten von Interesse und Wohlwollen, meistens waren sie jedoch auch ungefragt oder gar unangebracht. Diese Praxis des (ungefragten) Erteilens von Ratschlägen begegnet frischgebackenen Eltern besonders häufig, ist aber auch sonst selbstverständlicher Teil unseres Soziallebens – und hat eine äusserst interessante Entsprechung im muslimischen Alltagsleben.

Symbolbild Orientierung(slosigkeit). Nahaufnahme von Frau Schuhe stehen auf der Straße. In zwei Richtungen abbiegender Pfeil auf Strasse.
Wer unsicher ist, wie es weitergehen soll, sucht oft im persönlichen Umfeld nach Rat. Im Alltag von Muslim:innen spielt dabei die Praxis des nasiha-Gebens eine wichtige Rolle. (Bild: flyparade/iStock)

Nasiha: Durch einen guten Ratschlag Gott gerecht werden

Sowohl bei meinen Forschungsinterviews als auch in Alltagsgesprächen mit Muslim:innen in der Schweiz und in der Türkei begegneten mir immer wieder ganz verschiedene Formen des Ratgebens. Das Spektrum reicht von Ratschlägen zur religiösen Praxis und zum Glauben im engeren Sinne bis hin zu alltagsbezogenen Ratschlägen zum Hauskauf, zur Wahl des Studienfachs oder zur Kindererziehung. Gemeinsam ist diesen unterschiedlichen Ratschlägen der Versuch, Gutes zu gebieten und Schlechtes zu verhindern – ein Prinzip, das im Koran eine wichtige Rolle spielt und als Element der islamischen Sozialethik zwischenmenschliche Beziehungen prägt. Aber nicht nur das hehre Ziel der Ratschläge lässt sich in der islamischen Tradition verorten, auch das Erteilen der Ratschläge wird oft religiös legitimiert. Das zeigt sich schon in der türkischen Redewendung: din nasihattir. Übersetzt bedeutet das so viel wie «Die Religion ist aufrichtiger Ratschlag». Der Satz geht auf eine Aussage des Propheten Muhammed (auch hadith genannt) zurück, die er gegenüber seinen Gefährten geäussert haben soll. Auf ihre Nachfrage, wem gegenüber der Ratschlag denn erteilt werden soll, habe Muhammed gesagt: «gegenüber Allah, seinem Propheten, seiner Offenbarung, den Gelehrten und den einfachen Menschen». Diese Aufzählung erscheint auf den ersten Blick seltsam, denn es ist nicht unmittelbar nachvollziehbar, wie und warum ein Mensch Gott nasiha, also einen Ratschlag, zukommen lassen soll. Dieser vermeintliche Widerspruch lässt sich durch die Mehrdeutigkeit des arabischen Begriffs erklären: Nasiha bedeutet nämlich nicht nur «jemandem einen Rat geben», sondern kann auch «aufrichtig sein» oder «jemandem Gerechtigkeit widerfahren lassen» heissen. Nasiha gegenüber Gott zu praktizieren bedeutet also nicht, Gott Ratschläge zu erteilen, sondern vielmehr Gott und seinen Geboten gerecht zu werden. Das Gleiche gilt für nasiha gegenüber dem Propheten oder der Offenbarung. In dieser Ambiguität des Begriffs zeigt sich die Verschränkung der Bedeutungen in der nasiha-Praxis. Wenn jemand einem Mitmenschen einen aufrichtigen Ratschlag erteilt, so wird er auch Gott gerecht, in dem er beispielsweise die Anderen auf Gottes Gebote aufmerksam macht und so für das Seelenheil und Wohl der Mitmenschen sorgt. Ganz so einfach ist es allerdings nicht, denn was in der Theorie harmlos klingt, ist in der alltäglichen Praxis oftmals umstritten und konfliktiv – und macht gerade dadurch Autoritätsstrukturen sichtbar.

Unterseiten

Weiterführende Informationen

facultativ 2024

facultativ ist das Magazin der Theologischen und Religionswissenschaftlichen Fakultät (TRF) der Universität Zürich. Es erscheint einmal jährlich als Print- und Online-Ausgabe. Printexemplare werden als Beilage des Magazins bref verschickt und können über das Dekanat der Theologischen und Religionswissenschaftlichen Fakultät (Kirchgasse 9, Zürich) kostenlos bezogen werden.

Die Print-Ausgabe des facultativ 2024 erscheint am 11.10.2024.