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Geschichte unterliegt denen, die Geschichte schreiben. Auch Historiker:innen sehen die Welt nicht wie sie war, sondern immer durch die eigene Brille. Das führt manchmal zu fragwürdiger Geschichtskonstruktion, die stärker durch die eigenen Interessen als durch seriöse, reflektierte Quellenarbeit geleitet wurde. So geschehen bei der Matriarchatstheorie, die im 19. Jh. von Patriarchen erfunden wurde. Diese Theorie wurde auch auf Elam und seine Gottheiten angewandt, obwohl die antiken Quellen dafür bei genauer Betrachtung keine Hinweise liefern.
von Schirin Ghazivakili
Als westliche Forscher1 im frühen 20. Jahrhundert auf Götterstatuen und Tempelfassaden aus dem antiken Griechenland Farbrückstände entdeckten, kratzen sie diese ab und zerstörten dabei deren ursprünglichen Zustand. Zu schlecht passten bunte Götterstatuen zum Bild, das sich die Forscher bereits von den weis(s)en Griech:innen gemacht hatten. Erst Jahrzehnte später wurde die Verfälschung entdeckt. Mittlerweile wissen wir, dass antike griechische Tempelanlagen in knalligen Farben bemalt waren.
Die Geschichtsschreibung ist voller solcher Beispiele. Wir leben in der Matrix. Aber anders als in der berühmten Filmreihe haben nicht intelligente Maschinen unsere Realität geschaffen, sondern wir selbst waren es und führen diese Tätigkeit konstant fort. Stereotypen und Vorurteile beeinflussen, wie wir die Welt wahrnehmen. Geschichtsforschung bleibt davon nicht unberührt; zuweilen führen solche vorgefassten Meinungen sogar zur Manipulation von Quellendaten.
In anderen Fällen wird Geschichte im Sinne der eigenen Agenda entgegen der tatsächlichen Quellenlage konstruiert. Ein Beispiel dafür ist die Theorie, dass in der Antike oder der Vorgeschichte diverse Kulturen matriarchal organisiert waren, d. h. dass Frauen über Männer herrschten. Die Idee entstand im Westeuropa des 19. Jahrhundert als Argument gegen die gesellschaftliche Partizipation der Frau. Sie hatte ihren Ursprung in den Köpfen bürgerlicher Männer, allen voran des Baslers Johann Jakob Bachofen, der 1848 das einflussreiche Buch «Das Mutterrecht» veröffentlichte. Die Anhänger dieser Idee benutzten die Matriarchatstheorie als Evolutionsgeschichte. Dadurch konnten sie das Selbstbestimmungsrecht der Frauen in ein frühes Stadium der Menschheit verbannen, eine ferne Vergangenheit, die notwendigerweise überwunden werden musste, um den gegenwärtigen Stand der Zivilisation – mit Männern an der Macht – zu erreichen. Bachofen und andere Autoren konstruierten eine Vergangenheit, um Konflikten ihrer eigenen Zeit zu begegnen.
Es soll hier nicht behauptet werden, dass niemals irgendwo in der Antike ein Matriarchat existiert hat. Aber es gibt keine antiken Quellen, die diese Annahme bestätigen. Die bisher angeführten ‹Beweise› beruhen auf Fehlinterpretation von Quellenmaterial: «Bei genauerer Betrachtung erwiesen sich alle Hinweise auf Matriarchat als Falschinterpretation.»2
Die Matriarchatstheorie entstand denn auch nicht durch die Entdeckung neuer antiker Quellen, die Frauen in Machtpositionen zeigten. Die Idee ging allen Belegen voraus, die in diese Richtung weisen könnten. Diese wurden erst nachträglich gesucht und gemäss vorgegebener Theorie interpretiert. Dabei schlossen Bachofen und andere von mythischen Erzählungen über Gottheiten auf die Gesellschaftsorganisation. Texte, die viele Göttinnen nannten, galten als Hinweis auf ein Matriarchat. Diese Göttinnen wurden als Fruchtbarkeitsgöttinnen mit mütterlichen Zügen angesehen (sogenannte Muttergöttinnen), da in den Köpfen der bürgerlichen Herren Mutterschaft und Haushalt der einzige Aufgabenbereich der Frau war. So verbanden sie die Gesellschaftsform ‹Matriarchat› mit einem Fruchtbarkeitskult, in dessen Zentrum eine Muttergöttin stand.
Als ein Jahrhundert später an diversen Fundstellen in Europa und im Nahen Osten Figurinen nackter Frauen entdeckt wurden, galten diese als Beweis der Matriarchatstheorie. Die Figurinen sollten Fruchtbarkeits- bzw. Muttergöttinnen darstellen. Vier Tatsachen wurden bei dieser Interpretation ausgeblendet: 1. Bei all den Fundstätten von nackten Frauenfigurinen gibt es auch (wenn auch weniger) nackte Männerstatuetten. Von einer alleinigen Repräsentation von Weiblichkeit kann keine Rede sein. 2. Die Figurinen sind häufig wenig geschmückt, der Fokus liegt auf den Geschlechtsmerkmalen, während Beine, Arme und Köpfe oft nur rudimentär gestaltet bis gar nicht vorhanden sind. Götterfiguren würde man ganz ausgestalten. Insbesondere, dass der Kopf fehlt, spricht gegen eine Interpretation als Gottheiten. Es sei denn, es handelt sich um eine symbolische Repräsentation von Göttlichkeit, was bei den anthropomorphen Figurinen aber nicht der Fall ist. Göttliche Attribute fehlen. Die heutige Forschung geht darum davon aus, dass die Mehrheit dieser Figurinen keine Gottheiten darstellen. 3. Die Figurinen reduzieren weibliche Körper auf die Sexualorgane. Häufig halten die Frauen ihre Brüste den Betrachter:innen entgegen. Diese Motive sind mehrheitlich sexueller Art und haben nicht direkt mit Fruchtbarkeit zu tun3 (diese Verbindung wurde erst von den Forschern hergestellt). 4. In der Antike waren diverse männliche Götter erwiesenermaßen für Fruchtbarkeit von Mensch und Tier zuständig. Fruchtbarkeit war keineswegs eine rein weibliche Domäne.
Trotz dieser Ungereimtheiten war die Matriarchatstheorie sehr erfolgreich. Sie hielt sich vor allem hartnäckig in Bezug auf schriftlose Kulturen, oder solche mit wenigen, schwierig zu interpretierenden Texten. So ist beispielsweise Elam, eine Keilschriftkultur im Südwesten des heutigen Iran, wenig erforscht und die Sprache nicht vollständig entziffert. Die elamische Geschichte bietet somit viel Spielraum für Interpretationen. Elamische Quellen, die Frauen repräsentierten, wurden entsprechend als Hinweis auf eine ursprünglich matriarchal organisierte Gesellschaft interpretiert.
Ein Beispiel soll dies illustrieren: Im ältesten elamischen Dokument stand eine weibliche Gottheit, Pinigir, an der Spitze der Liste von Göttern, die das Dokument bezeugen sollten. Da sie an erster Stelle stand, wurde angenommen, Pinigir sei die höchste Gottheit des Pantheons. Eine weibliche Gottheit am Kopf des Pantheons konnte nach Ansicht der alten Forschung nur eine Muttergottheit sein. Eine Gesellschaft wiederum, die als oberste Göttin eine Muttergottheit verehrte, müsste ein Matriarchat sein. Abgesehen von der problematischen Vorgehensweise, stehen alle drei Thesen auch auf dünner Quellenbasis. Es handelt sich um ein einziges Dokument, dessen Inhalt schwer zu interpretieren ist. Dass eine Göttin zuerst genannt ist, bedeutet nicht, dass diese auch an der Spitze des Pantheons stand. Diverse andere Gründe für die Reihenfolge der Gottheiten im Dokument sind denkbar.4 Aber auch wenn wir davon ausgehen, dass die erste Prämisse stimmt, macht dies Pinigir nicht automatisch zur Muttergottheit. Tatsächlich wissen wir relativ wenig über diese Gottheit, da sie sehr selten in Texten erwähnt wird. Das spricht gegen ihre Wichtigkeit. Insbesondere für das Königtum war sie von untergeordneter Bedeutung. Ein Vergleich mit dem benachbarten Mesopotamien legt nahe, dass Pinigirs Zuständigkeitsbereich sich auf Sexualität und Krieg bezog. Vor allem aber kann nicht eins zu eins von der Organisation des Pantheons auf die Gesellschaftsstruktur geschlossen werden; vor allem nicht, wenn andere Quellen dieser Interpretation widersprechen. Es gibt Göttinnen, die in gewissen Kontexten mit Muttersein assoziiert wurden. Diese Göttinnen haben aber auch andere Zuständigkeitsbereiche. Es kann weder eine grosse Muttergöttin, noch ein Fruchtbarkeitskult in Elam nachgewiesen werden. Was die Gesellschaftsorganisation anbelangt, gibt es keine Belge für ein Matriarchat. Frauen hatten durchaus Freiheiten und Rechte (mehr als in anderen, besser dokumentierten antiken Gesellschaften, was zum Eindruck eines Matriarchats beigetragen hat; so konnten sie z. B. eigenen Besitz selbstständig verwalten), aber innerhalb eines in den Grundzügen patriarchalen Systems. Zu keiner Zeit in der elamischen Geschichte herrschten Frauen.
Die These, dass Elam ein Matriarchat war, wird heute nicht mehr aktiv vertreten, aber die Idee beeinflusst nach wie vor Interpretationen elamischer Quellen. Diese Diskussion gilt es auf den Stand modernster Geschlechtergeschichte zu heben. Anstatt die Rolle von Frauen isoliert zu betrachten, soll die Bedeutung der Geschlechterdifferenz in den Fokus rücken. Dabei ist es wichtig, Geschlecht als offene Kategorie zu fassen, um der Verfälschung der Quellen durch mögliche Vorannahmen vorzubeugen.
Bei genauer Analyse der Quellen zeigt sich, dass Geschlecht als Kategorie in der elamischen Götterwelt keine wesentliche Rolle spielt. Die meisten Götternamen sind keinem Geschlecht zuzuordnen und da die elamische Sprache Geschlecht grammatikalisch nicht markiert, kann das Geschlecht von Gottheiten auch in einem Text nicht eindeutig identifiziert werden. Auch göttliche Beinamen sind meistens geschlechtsneutral. Das bedeutet nicht, dass elamische Gottheiten alle geschlechtslos waren, in einigen Fällen sind göttliche Beinamen geschlechtsspezifisch und erlauben somit eine entsprechende Zuordnung. Aber ihre Geschlechtszugehörigkeit war innerhalb der göttlichen Sphäre weniger wichtig, als wir uns das heute vorstellen, wenn wir an antike Gottheiten denken.
Welche Bedeutung Gottheiten wie Pinigir in der elamischen Kultur genau hatten, können wir heute nicht mit Sicherheit sagen. Auch die in diesem Artikel vorgestellten Interpretationen beanspruchen keine historische Wahrheit für sich. Auch sie entstanden innerhalb der Matrix, sind abhängig von antiken Quellen, die selbst nicht objektiv sind und immer nur einen Ausschnitt zeigen, sowie den an die Quellen gestellten Fragen. Welche Fragen dies sind, hängt wiederum von der Perspektive der Fragenden ab. Einen direkten Zugriff auf die Vergangenheit gibt es nicht. Geschichtsschreibung ist dennoch möglich, wenn sie sich an bestimmte Prinzipien hält. Der vorliegende Artikel plädiert für Differenzierung und Transparenz: der eigenen Position sowie in Bezug auf die Aussagekraft der verwendeten Quellen. Die hier propagierte Vorgehensweise unterscheidet sich von derjenigen der Anhänger:innen5 der Matriarchatstheorie durch die Reflexion eigener Vorannahmen sowie die kritische, genaue Lektüre der vorhandenen Quellen in Originalsprache. So kann der Vergangenheit ein Teil ihrer Farbe zurückgegeben werden.
Schirin Ghazivakili ist Doktorandin am Lehrstuhl für historische und vergleichende Religionswissenschaft an der UZH. Ihr Dissertationsprojekt trägt den Titel: «Women and Snakes? Gender Roles in Elamite Religion and their Relation to Religious Agency».