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Theologische und Religionswissenschaftliche Fakultät

Modis Metamorphose

Vom Staatsführer zum Hindu-Guru und zurück

Während der Covid19-Pandemie hat der indische Premierminister Narendra Modi sein Image als starker Führer und traditionsbewusster Geschäftsmann mit dem des hinduistischen Gurus ausgetauscht. Eine bemerkenswerte Veränderung, die viel über die Figur Modi und die Verschmelzung von Religion und Politik in Indien aussagt.

von Nina Rageth

Der indische Premierminister Narendra Modi vor der Covid-19-Pandemie: Mit sorgfältig getrimmtem Bart, Designerbrille und massgeschneiderter Weste inszeniert er sich als geschäftstüchtiger und souveräner Staatschef
Der indische Premierminister Narendra Modi vor der Covid-19-Pandemie: Mit sorgfältig getrimmtem Bart, Designerbrille und massgeschneiderter Weste inszeniert er sich als geschäftstüchtiger und souveräner Staatschef. (Bilder: Press Information Bureau/Government of India)

Narendra Modi ist ein begabter Redner und ein Mann mit ausgeprägter öffentlicher und medialer Präsenz. Als versierter Nutzer von sozialen Medien gehört er gegenwärtig zudem zu den Staatsführenden mit den meisten Followern auf Instagram. Modi weiss um die politische Wirkkraft seines Auftretens: Man kennt ihn als einen Premier, der sein Erscheinungsbild perfektioniert hat und der Massen von Menschen für seine Auftritte mobilisiert.

Modi trägt eine massgeschneiderte Kurta und Weste (ein Outfit, das heute unter dem Namen Modi-Kurta und Modi-Weste vermarktet wird), Designerbrille, Luxusuhr und einen sorgfältig getrimmten Bart. Sein Stil vereint Traditionsbewusstsein mit Nationalstolz, kosmopolitischem Flair, Geschäftstüchtigkeit und Männlichkeit. Dieses Auftreten war nie Zufall oder blosse Eitelkeit, sondern immer Teil von Modis politischem Programm. Seit Narendra Modi 2014 in das Amt des Premier­ministers gewählt wurde, kultiviert er das Selbstbild des starken Führers, der nach Jahren der Regierung durch die oppositionelle Kongress Partei eine neue Ära für die indische Nation einläutet. Mit dem Wahlspruch «good days are coming» kündigte seine BJP Partei (Bharatiya Janata Party, indische Volksparteil) Wandel, positiven Wandel an, den Modi mit seiner Grösse, Stärke und seinem Willen einleiten werde.

Verwandlung zu Beginn der Covid-Pandemie

Dieses Bild des immer souveränen, unantastbaren Staatschefs inszeniert Modi über Jahre. Bis sich im April 2020 auch in Indien Covid-19 ausbreitete. Am neunten Tag des ersten Lockdowns ruft Modi die Nation zu einem neun-minütigen Moment der Solidarität auf und schafft dadurch die Möglichkeit für einen bemerkenswerten Auftritt. Indische Fernsehsender zeigen Modi, wie er in schlichten Kleidern, mit niemandem ausser seiner Mutter an seiner Seite, schweigend eine Öllampe anzündet. Wie ein einfacher Mann, ein Suchender, versenkt er seinen Blick in der flackernden Lampe, einem hinduistischen Ritualobjekt. Modi schweigt mit der Nation für die Nation. Was zu diesem Zeitpunkt als unerwartete und aussergewöhnliche Darbietung des Premierministers erschien, markiert retrospektiv eine Zäsur. In den folgenden Monaten verändert Modi sein Aussehen und Auftreten dramatisch. Er ist von nun an in lose geschnittenen Roben in matten Farben zu sehen – im Fernsehen, in den Zeitungen und auf den verschiedenen Social-Media-Kanälen. Bei einer Gelegenheit trägt er sogar ein Saffran-farbiges Gewand, ein Kleidungsstück, das Askese und religiöse Initiation signalisiert und im heutigen politischen Kontext Nähe zu den Hindu-Hardlinern markiert. Modi legt sich nicht nur eine neue Garderobe zu, sondern lässt auch seine Haare und seinen Bart wachsen. Seine öffentlichen Auftritte werden seltener und er gibt sich nicht mehr als Führer, sondern als Berater und Beschützer. Aus religionswissenschaftlicher Perspektive ist Modis Bildsprache unverkennbar: Mit seiner Kleidung, seinem Bart und Kopfhaar imitiert er die Ästhetik eines Hindu-Gurus; einer historisch gewichtigen und sozio-politisch hochrelevanten Figur für den indischen Nationalstaat. Modis Auftreten erinnert nun an jenes von Mahatma Gandhi – um nur das bekannteste Beispiele dieser Kategorie zu nennen. Als Hindu-Guru ist Modi zwar noch auf der Welt, aber nicht mehr von der Welt. Er gibt sich bescheiden, einfach und zurückgezogen. Und er strahlt nicht mehr politische, sondern religiöse Autorität aus.

Diese Art der Verschmelzung von Religion und Politik ist bemerkenswert, auch wenn sie in der Geschichte des indischen Nationalstaates nichts Neues ist. Es gibt dazu zahlreiche Beispiele: von indischen Unabhängigkeitskämpfern, die auch hinduistische Reformer waren, über Hindu-Gurus (sowohl Männer wie auch Frauen), die politisch aktiv sind, bis zu religiösen Vertretern und Vertreterinnen in Regierungsämtern. Dass sich aber der Premierminister Indiens, einer per Verfassung säkularen Republik notabene, als godman inszeniert, ist neu. Die Verwischung der Grenzen von Religion und Politik auf der Ebene der Staatsführung und die damit verbundene Verschmelzung von religiöser mit politischer Autorität, ist bis dato ungesehen; eine bemerkenswerte Konfiguration, die genauer betrachtet werden muss.

Flucht vor der Verantwortung

Modi ist ein Stratege. Seine Metamorphose ist sicher nicht zufällig geschehen. Dennoch inszeniert er seine neue Guru-Rolle mit der für ihn typischen Selbstverständlichkeit und Selbstsicherheit und ohne die Veränderung zu kommentieren oder zu erklären. Was also sind seine Motive?

Eine naheliegende Erklärung für Modis Verwandlung ist das desaströse Management der Pandemie. Modis Auftreten als Hindu-Guru wird nämlich am deutlichsten sichtbar in der Zeit der Krise: Die Pandemie und insbesondere das politische Versagen führen in Indien zu einer humanitären Katastrophe. Die Infrastruktur bricht zusammen. Indien versinkt im Chaos. Die WHO lässt verlauten, dass bis Ende 2021 knapp fünf Millionen Menschen in Indien durch die Pandemie gestorben seien. Gemäss Umfragen verliert Modi in dieser Zeit der nationalen Krise zum ersten Mal seit seinem Amtsantritt an Beliebtheit.

Die Figur des Hindu-Gurus hilft Modi, sich seiner politischen Verantwortung zu entziehen. Von einem Hindu-Guru werden keine politischen Lösungen und praktischen Handlungen erwartet. Seine Aufgabe ist es, moralische und emotionale Unterstützung zu bieten und den Menschen das Gefühl von Geborgenheit und Fürsorge zu geben. Modi bedient sich der Figur des Hindu-Gurus, so lässt sich vermuten, um seine Glaubwürdigkeit als Staatsführer nicht zu verlieren. Seinen politischen Aufgaben als Staatsführer kann er offenbar nicht gerecht werden, seine selbst gewählten religiösen Aufgaben erfüllt er aber glänzend.

Während der Covid-19-Pandemie, die in Indien ein katastrophales Ausmass erreicht, imitiert Modi mit langem Bart und Saffran-farbigem Gewand die Ästhetik eines Hindu-Gurus – und entzieht sich in dieser Rolle der politischen Verantwortung.
Während der Covid-19-Pandemie, die in Indien ein katastrophales Ausmass erreicht, imitiert Modi mit langem Bart und Saffran-farbigem Gewand die Ästhetik eines Hindu-Gurus – und entzieht sich in dieser Rolle der politischen Verantwortung.

Hindu-Ethnokratie als politisches Ziel

Möglicherweise verfolgt Modi aber noch ein grösseres Ziel. Indien ist die bevölkerungsreichste Demokratie der Welt – und wird gerne als Vorzeigemodell für den globalen Süden gesehen. Es gibt jedoch klare Zeichen, dass die gegenwärtige Regierung die Demokratie untergraben will. Das deutlichste Beispiel ist die Marginalisierung von Minderheiten, was insbesondere Muslim:innen betrifft. Nicht nur toleriert die indische Regierung Hass und gar Gewalt gegen sie, sie hat sogar Gesetze erlassen, die die muslimische Gemeinschaft diskriminieren und sie zu Bürger:innen zweiter Klasse machen. Modi und seine Regierung arbeiten daran, die indische Demokratie in eine Hindu-Ethnokratie umzuwandeln, d. h. in einen Staat, in dem die dominierende Gruppe der Hindus die Vormachtstellung hat. Indien als Hindu-Ethnokratie entspricht einem Staat, der von Hindus für Hindus regiert wird. Für Nicht-Hindus gibt es keinen Platz. Sie werden systematisch ausgegrenzt, ihre Bedürfnisse und Interessen negiert. Modis Auftreten als Hindu-Guru kann genau in diesem Zusammenhang interpretiert werden. Als Hindu-Guru ist er nicht mehr ein Repräsentant der indischen Bürger:innen, sondern der Hindu-Mehrheit. Die Figur des Hindu-Gurus scheint eine machtvolle Figur zu sein, um die politischen Ziele Modis zu verwirklichen.

Modis Motivation für sein Handeln lässt sich aber nicht auf ideologische Ziele reduzieren. Genau wie anderen Regierungschefs – man denke an Trump, Bolsonaro oder Duterte – geht es auch ihm nicht zuletzt um seinen persönlichen Ruhm und um seine Macht. Vor diesem Hintergrund lässt sich sein Auftreten als Hindu-Guru noch einmal anders sehen: als spektakuläre Inszenierung, die ihm Aufmerksamkeit verschafft. «Modi, der Hindu-Guru», das macht Schlagzeilen, und mehr noch, das schürt Angst; Angst bei den und um die Minderheiten, die durch diese Inszenierung implizit an den Rand gedrängt und ausgeschlossen werden.

Zurück zu business as usual?

Im September 2021 stutzte Modi seinen Bart sichtlich, schnitt sein Haar etwas zurück und trägt nun wieder die Modi-Kurta und Modi-Weste. Zum ersten Mal seit Ausbruch von Covid-19 reist Modi in die USA und trifft Joe Biden in Washington. Modi ist wieder ein Staatsführer, ein Mann der weltlichen Dinge. Die Pandemie hat ihm die Möglichkeit gegeben, zu erproben, ob und wie er Indien als Hindu-Guru regieren kann. Noch vor ein paar Jahren wäre es unvorstellbar gewesen, dass sich ein indischer Premierminister als Hindu-Guru inszeniert. Die Pandemie und die tiefgreifende Krise haben Modis Inszenierung als Hindu-Guru wenn nicht ermöglicht, so doch begünstigt.

Es ist heute unklar, welche Erkenntnisse Modi für seine zukünftigen Regierungstätigkeiten daraus gezogen hat und welche Konsequenzen diese Episode für die politische Zukunft Indiens und insbesondere für die Minderheiten haben wird. Deutlich gezeigt hat diese Episode, dass Modi bereit ist, das Fundament der indischen Republik zu untergraben – für seinen Machterhalt, fürs Vorantreiben seiner politischen Ziele und um Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

 


Dr. Nina Rageth ist Assoziierte Forscherin am Religionswissenschaftlichen Seminar der UZH. Dieser Artikel basiert auf einer Forschungsarbeit, die sie zusammen mit David Landau durchgeführt hat.