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Der protestantische Theologe Adolf von Harnack rechtfertigte im 1. Weltkrieg die Kriegsführung Deutschlands mit theologischen Argumenten. Weil er das Christentum Luthers für die höchste Stufe der Religionsgeschichte hielt, war er vom Führungsanspruch des protestantischen Deutschlands überzeugt und rechnete mit Gottes Beistand – die Gräuel des Krieges blendete er aus.
von Dominik von Allmen-Mäder
Seit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine rückt neu in den Fokus, wie religiöse Motive und theologische Lehren Kriege unterstützen können. Kyrill I., das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, spielt eine wichtige Rolle in Putins Propaganda. Im Protestantismus ist die Beziehung zwischen Religion und Politik eine andere als in der russisch-orthodoxen Kirche. Doch auch die Geschichte des Protestantismus enthält verschiedene Beispiele dafür, wie Kriegsführung theologisch gerechtfertigt wurde. Das spiegelt sich etwa in der Biografie des deutschen Kirchenhistorikers Adolf von Harnack (1851–1930).
Zu Beginn von Harnacks Leben deutete allerdings nichts auf eine so steile Karriere hin: Als Baltendeutscher wuchs er fern aller Machtzentren auf, sein Vater lehrte Kirchengeschichte an der Universität im heutigen Tartu (Estland). Bald jedoch entpuppte sich der junge Harnack als äusserst begabter Nachwuchswissenschaftler. Seine umfangreichen Publikationen auf dem Gebiet der frühen Kirchengeschichte stachen heraus, sein hervorragendes Talent für Networking tat das Übrige. Mit nur 37 Jahren war er bereits am Höhepunkt einer akademischen Laufbahn seiner Zeit angelangt: Kaiser Wilhelm II. berief ihn auf eine Professur für Kirchengeschichte in die Reichshauptstadt Berlin.
Sein Aufstieg war damit aber noch nicht abgeschlossen. In Berlin konnten sich Harnacks Ambitionen erst richtig entfalten. Er lancierte grosse Forschungsprojekte und übernahm zahlreiche wichtige Ämter. Sie brachten ihn in Kontakt mit den höchsten Zirkeln des Kaiserreichs: Leitende Ministerialbeamte, führende Intellektuelle und auch Kaiser Wilhelm II. selbst holten seine Meinung zu verschiedensten Fragen ein.
Vor allem war Harnack massgeblich an der Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft beteiligt, die Spitzenwissenschaft an der Schnittstelle von Grossindustrie und akademischer Forschung förderte. Harnack, der Theologe, brachte Industrielle und Naturwissenschaftler an einen Tisch und stand der Gesellschaft jahrzehntelang als Präsident vor.
Auch als der Erste Weltkrieg ausbrach, nahm Harnack seine Rolle als public intellectual, Kaiserberater und Wissenschaftsmanager wahr. Auf Bitten des Staatssekretärs entwarf er den Aufruf, mit dem sich Kaiser Wilhelm II. am 6. August 1914 an die Öffentlichkeit wandte. Er endete mit dem Satz: «Vorwärts mit Gott, der mit uns sein wird, wie er mit den Vätern war!» Wer so spricht, glaubt an eine besondere Auserwählung, an einen gottgegebenen Auftrag der eigenen Nation.
Harnack kommentierte die Lage ausserdem mit eigenen Vorträgen und Schriften. Seine zentrale Botschaft war: Deutschlands Kriegsführung ist nicht unethisch. Dass Deutschland Frankreich über das neutrale Belgien angriff, sah Harnack etwa durch eine Art Notrecht gedeckt. Er zog als Illustration eine biblische Geschichte heran, in der König David seine hungernden Soldaten mit Brot aus dem Tempel versorgt. Eigentlich ein No-Go, da dieses Brot Gott geweiht war. In der Geschichte wird das aber durch die besondere Situation gerechtfertigt.
Das war nicht bloss zynische Propaganda. Harnack war zutiefst überzeugt, dass Menschen dazu fähig sind, das Gute zu erkennen und entsprechend zu handeln – selbst unter den veränderten Bedingungen des Krieges. «Sittlichkeit» nannte man das damals. Harnack benutzte dieses Wort immer wieder. Im Gegensatz zu anderen forderte er damit immerhin ein Mindestmass an ethischer Begründung für militärische Entscheidungen ein. Allerdings: Die Gräuel des Krieges blendete Harnack in diesen Wortmeldungen weitgehend aus.
Es fragt sich, ob Harnack damit nicht half, eine Illusion aufrechtzuerhalten. Als Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft beteiligte er sich gleichzeitig daran, deren Institute auf Waffen- und Kriegsforschung umzustellen. Während er über «Sittlichkeit» sprach, wurde dort Giftgas entwickelt.
Harnack war ein Kosmopolit, weit gereist und international vernetzt. Es gab andere deutsche Intellektuelle, die deutlich nationalistischer eingestellt waren als er. Was führte dazu, dass er sich dennoch hinter den Krieg stellte? Eine Antwort findet sich in seinem berühmtesten theologischen Werk. Bereits 1899/1900 hielt Harnack eine populärwissenschaftliche Vorlesung unter dem Titel «Das Wesen des Christentums». Rund 600 Studierende aller Fakultäten hörten zu, wie Harnack die essenziellen Grundlagen des Christentums für die Gegenwart interpretierte. Als Buch publiziert, wurde die Vorlesung sofort zum Bestseller.
Auf den ersten Blick handelt es sich um eine harmlose Auslegung der Evangelien. Harnack stellt dar, worin die Botschaft Jesu bestanden habe: Jesus vermittelte den Menschen ein neues Gottesverhältnis. Seine Idee des «Reiches Gottes» hat alle rituelle, an Äusserlichkeiten gebundene Religionspraxis beseitigt und eine innere, individuelle Gottesbeziehung ermöglicht. Jesus hat ausserdem den «unendlichen Wert der Menschenseele» aufgezeigt, indem er Gott als «Vater» der Menschen verkündete. Damit wiederum stiftete er eine bessere sittliche Haltung, nämlich das Gebot der Liebe: Weil sich die Menschen nun als Kinder Gottes erkennen, sollen sie einander auch wie Brüder behandeln.
Weniger harmlos ist der Hintergrund dieser Jesus-Interpretation. Harnack arbeitet mit einer Art Stufenmodell: Mit Jesu Predigt wurde eine neue, höchste Stufe der Religionsgeschichte erreicht. Die Predigt vom barmherzigen, liebenden Vatergott stiftete eine neue Religion, nämlich das Christentum. Demgegenüber hielt Harnack alle anderen Religionen für unterlegen. Nach seinem Urteil beruhten sie auf bloss äusserlichen Traditionen und Ritualen, kannten nur versteinerte Dogmen. Sie hatten keinen Sinn für die individuelle Beziehung zu Gott als Vater – also sahen sie auch den «unendlichen Wert der Menschenseele» und den Sinn des Liebesgebots nicht ein.
Dieses Stufenmodell hat Folgen: Im zweiten Teil des Buches wendet Harnack es an, um die Geschichte der drei grossen christlichen Konfessionen zu interpretieren. Das orthodoxe Osteuropa stand in Harnacks Augen noch immer auf einer sehr niedrigen Stufe. Dieser Zweig des Christentums unterschied sich für ihn nur knapp von heidnischer Religiosität, er beruhte allein auf stumpfen Ritualen und Traditionen. Die römisch-katholischen Länder Westeuropas schätzte Harnack höher. Aber auch sie erreichten das Niveau des jesuanischen Original-Christentums nicht ganz – für Harnack war der Katholizismus zu sehr von äusserlichen Institutionen wie dem Papstamt abhängig. Nach seiner Meinung reichte nur der von Luther ausgehende Protestantismus an die religiöse Hochform heran, die Jesus stiftete.
Von hier aus ist leicht zu verstehen, weshalb Harnack gerade als Theologe die Kriegsbemühungen unterstützen und verteidigen konnte. Deutschland war für ihn die Wiege des Protestantismus. Es hatte in Harnacks Augen deshalb das Potential, das religiöse, sittliche und kulturelle Niveau des echten jesuanischen Christentums zu verwirklichen. Im Ersten Weltkrieg ging es für Harnack um die Verteidigung jenes Volkes, dessen kulturelles und religiöses Erbe das wahre Wesen des Christentums bewahrte und weitertrug.
1915, mitten im Krieg, legte Harnack sein berühmtes Buch über «Das Wesen des Christentums» neu auf: Als «handliche Feldausgabe» für die Soldaten. Es scheint, dass er tatsächlich selbst glaubte, was er schrieb; dass er nach bestem Wissen und Gewissen handelte. Rückblickend zeigt sich aber, wie sehr seine eigene Theologie die menschlichen Abgründe überspielte, die sich im Ersten Weltkrieg öffneten. Mehr noch: Sie schloss eine theologische Deutung Jesu mit dem kulturellen Führungsanspruch des protestantischen Deutschlands kurz. Und rechtfertigte so den Krieg.
Dominik von Allmen-Mäder ist Assistent bei Prof. Dr. Matthias D. Wüthrich (Professur für Systematische Theologie, insbesondere Religionsphilosophie) . Im Frühjahrssemester 2022 hat er ein Proseminar zu Adolf von Harnacks «Das Wesen des Christentums» abgehalten. In seinem Dissertationsprojekt befasst sich von Allmen-Mäder mit dem Offenbarungsbegriff bei Karl Barth.