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Von David Atwood
Die vielbesungenen und heissgeliebten, durch den Klimawandel bedrohten Seen, Berge und Wälder der Schweiz sind keine neutralen Gegebenheiten der Natur: Die Landschaft der Schweiz ist immer auch mythologisch und damit kulturell überformt. Sichtbar wird das z. B. daran, dass bestimmte geografische Räume wirtschaftlich, politisch oder religiös genutzt oder aufgeladen werden: als touristisches Kapital, als sakralisierte und rituell inszenierte Erinnerungs- oder als imaginierte Gründungsorte. Konkrete Beispiele sind etwa Berge wie die Rigi, der Pilatus, der Gotthard oder Eiger, Mönch und Jungfrau, oder Gewässer wie der Genfersee, das Rütli oder der Rheinfall.
Gewisse Landschaften, wie etwa die Innerschweiz mit dem Vierwaldstättersee, vereinen gleich mehrere dieser Aspekte. So ist etwa die Rigi neben ihrer touristischen Nutzung als Wander- und Ausflugsziel in jüngerer Zeit einem zeitgenössischen Publikum zum Ort spiritueller Praxis geworden, zu einem Ort für Meditationsretreats, der sich frei zwischen Zen-Buddhismus und christlicher Mystik bewegt. Auch liegen viele Orte der politischen Sakrallandschaft der Schweiz unweit des Fusses der Rigi: Morgarten, Sempach, das Rütli oder – ebenfalls in Sichtweite – der Gotthard. Alles Orte, an denen nationale Identitäten geschaffen und ausgehandelt werden und die unmittelbar mit identitätsstiftenden, geradezu «heiligen» Geschichten des schweizerischen Nationalstaats verbunden sind.
Man findet die mythologische Landschaft der Schweiz aber auch in Texten, Filmen, Gesprächen – überall dort, wo Landschaften in Erzählungen gekleidet werden.
Dies lässt sich etwa an dem Berg illustrieren, der gegenüber der Rigi liegt: Wer heute an den Pilatus denkt, dem kommen vielleicht die touristisch nutzbaren Bahnen in den Sinn. Schnell aber kommt die Frage auf, wieso dieser Berg denselben Namen trägt wie Pontius Pilatus, der Jesus zum Tod am Kreuz verurteilte? Die Etymologie des Namens geht auf eine falsche Interpretation zurück: Von den Römer:innen wurde der Berg pilleatus (von pilleus, Filzhut oder Kappe) genannt, was in verschiedenen noch heute gängigen Versen über den Pilatus präsent ist («Trägt der Pilatus einen Hut, wird das Wetter gut…»). Als die deutschsprachigen Alemann:innen in die Innerschweiz einwanderten, übernahmen sie viele Namen aus dem Lateinischen ohne sie zu verstehen und deuteten sie um. Die Umdeutung von pilleatus zu Pilatus lag nahe, ebenso die Idee, er müsse nun als Geist im Gebirge hausen – denn im Hochgebirge hausten nach alter Überzeugung die bösen Geister. Im Fall des Geistes des Pontius Pilatus nahm man einen Bergsee als Stätte an. Mit der frühen Naturforschung wurde dieser Aberglaube dann auf den Prüfstand gesetzt – etwa von einem Luzerner Pfarrer, der ein Experiment durchführte und dadurch bewies, dass ein bestimmter Bergsee auf dem Pilatus nicht wie angenommen die Stätte des gleichnamigen Geistes war. Er tat dies, indem er einen Stein in den See warf und Pilatus’ Geist durch einen bekannten Spruch provozierte. Beides waren bis dahin gesetzlich streng verbotene Handlungen, denn man fürchtete, dadurch den Zorn des Geistes zu wecken und eine Überschwemmung von Luzern zu provozieren.
Trotz dieser Entzauberung blieb der Pilatus der Berg, den man als erhaben, teilweise auch als furchterregend wahrnahm. Noch bis ins 18. Jahrhundert wurde vermutet, dass oben in den Höhlen und Spalten schreckliche Drachen hausen.
Die Beispiele der beiden Berge Rigi und Pilatus zeigen, dass unsere Wahrnehmung von Landschaft immer auch in ihre kulturelle Gestaltung eingebettet ist: Wir können Landschaft gar nicht wahrnehmen, ohne ihre bis ins Mittelalter zurückgehende, literarische und künstlerische Stilisierung mitzudenken. Schöne oder idyllische Orte sind deshalb schön und idyllisch, weil wir gelernt haben, sie als solche wahrzunehmen. Ein Spaziergang entlang eines Bergsees, in einem Dörfchen oder einem Wald werden in Europa als idyllisch empfunden, weil sie seit der Liebeslyrik der mittelalterlichen Minneliteratur so erzählt werden.
Um diese Wahrnehmung von Landschaft zu analysieren, wurde in den 1980er Jahren von Lucius und Annemarie Burckhardt die sogenannte «Promenadologie», die Spaziergangswissenschaft (engl. strollology), entwickelt. Diese durchaus ironische «neue Disziplin» setzte sich das ernsthafte Ziel, die Wahrnehmung von Landschaft als Konstruktion im Kopf des Beobachtenden zu untersuchen und zu analysieren. Die Spaziergangswissenschaft versammelt deshalb verschiedene Methoden wie die Feldforschung, die begehende Landschaftsbeschreibung oder das «peripatetische» Denken, d. h. das Lesen von Texten in ihrem Kontext: Es macht einen grossen Unterschied, ob man Heinrich Heines Harzreise im Seminarraum oder im Harz selbst liest, ob das Thema «Tod und Trauer» im Vorlesungssaal oder auf dem städtischen Friedhof diskutiert wird, ob die Schillersche Geschichte des Wilhelm Tell auf dem Rütli und dem Vierwaldtsättersee oder aber zuhause im Bett gelesen wird.
Darüber hinaus versucht die Spaziergangswissenschaft auch, unsere erlernten Wahrnehmungen von «schöner» oder «hässlicher» Landschaft zu dekonstruieren und sichtbar zu machen, wie eine «schöne Landschaft» imaginiert wird und wieso wir etwa ein Kohlebergwerk oder eine Industriebrache als hässlich wahrnehmen.
Dozierende des Zentrums für Religion, Wirtschaft und Politik (ZRWP) haben in den letzten Jahren die Spaziergangswissenschaft in die Religionsforschung integriert und dabei die «Religions-Promenadologie» entwickelt, welche Landschaften in ihren religiösen, aber auch politischen und wirtschaftlichen Dimensionen beschreibt. Auf zwei ersten Exkursionen in den Harz und in die Surselva wurde von den Teilnehmer:innen die Vielschichtigkeit der jeweiligen Landschaften im Gehen erkundet und beschrieben. Dabei sind sie von vorchristlichen religiösen Stätten über ihre christliche Umnutzung bis zur zeitgenössischen Nutzung als Kraftorte vorgedrungen, haben den Brocken als Hexenberg in Goethes Faust bestiegen und über die heutige touristisch-ökonomische Verwertung der Hexenthematik diskutiert. Zudem wurde der «Ursprung» des Rheins in der Surselva als Anfang einer rheinmythologischen Landschaft untersucht, welche sich bis zu seiner Mündung in Rotterdam zieht.
Die Religions-Promenadologie als wissenschaftliche Methode ermöglicht es, die Landschaft und ihre Wahrnehmung quer durch verschiedene historische Schichten und Dimensionen hinweg beobachten zu können. Für das Jahr 2025 oder 2026 plant das ZRWP deshab eine Exkursion an den Vierwaldstättersee. Der See und seine Umgebung fungieren als Gründungslandschaft der Eidgenossenschaft, die nicht nur mythologisch-literarisch, sondern bis heute auch politisch umkämpft ist (was die jüngeren Diskussionen um die Nutzung des Rütli zeigen). Es handelt sich also um eine mythologische, religionshistorische, ökonomisch nutzbare, politisch inszenierte und nicht zuletzt auch archäologisch vielfältige Landschaft. Alle diese Dimensionen und ihr Zusammenwirken können vor Ort erkundet, «ergangen» und beschrieben werden.
Prof. Dr. David Atwood ist Professor für Religion und Öffentlichkeit an der Universität Zürich und geschäftsführender Direktor des ZRWP.