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Von Silvia Martens, Jürgen Endres und Andreas Tunger-Zanetti
In den 2010er Jahren waren religiöse Radikalisierung und islamisch begründeter Extremismus in aller Munde. Insbesondere der Salafismus erhielt in dieser Zeit viel Aufmerksamkeit im medialen und politischen Diskurs: «Salafismus – Einstieg in die Gewalt», «Salafismus breitet sich in Berlin aus», «Salafismus ist eine maximale Protesthaltung», so nur einige der vielen Schlagzeilen in den Massenmedien. Gemeint ist mit der Bezeichnung «Salafismus» («Salafiyya») eine konservative, am Koran und den Überlieferungen des Propheten Muhammad ausgerichtete Strömung des Islam, die unter anderem durch eine wörtliche Auslegung der religiösen Quellen, ein dichotomes Weltbild und eine aktive Missionstätigkeit gekennzeichnet ist. In der Schweiz ist Salafismus eine Randerscheinung und die «Salafiyya» – wie die dem Salafismus zugehörige Community genannt wird – klein. Trotzdem lohnt es sich das mit Salafismus verbundene, vielgestaltige Phänomen genauer zu betrachten und wissenschaftlich zu untersuchen. Ein differenzierter, informierter Blick auf das Salafi-Spektrum ist Grundvoraussetzung für angemessenes politisches und behördliches Handeln im Bereich von Prävention, Distanzierung und Deradikalisierung in Bezug auf islamisch begründeten Extremismus. Mit dem Forschungsprojekt «Salafismus in der Deutschschweiz» (2019–2022) wurde dazu ein wichtiger Beitrag geleistet.
Das Forschungsteam des besagten Projektes nahm bei der Untersuchung in erster Linie eine religionswissenschaftliche Perspektive ein, um die vielfältigen Erscheinungsformen von Salafiyya, die gesellschaftlichen Positionierungen von Salafis in der Schweiz sowie die Dynamiken innerhalb dieses religiösen Spektrums besser verstehen zu können. Der geografische Schwerpunkt lag auf der deutschsprachigen Schweiz, da Kontakte und Vernetzungen in den Salafi-Milieus nur selten die Sprachgrenzen überschreiten. Wichtiger sind Kontakte in Nachbarländer desselben Sprachraums, in Herkunftsländer der Akteur:innen oder in arabische Länder. Trotz erschwertem Feldzugang während der Corona-Pandemie war es den beteiligten Forschenden möglich, 28 ausführliche Interviews und acht Expertengespräche zu führen sowie an Freitagspredigten und islamischen Unterrichtsstunden (durūs) in Moscheen des Salafiyya-Spektrums beobachtend teilzunehmen. Ausserdem wurden etwa 50 Text-, Video- und Audiomaterialien (z. B. Predigten) von Webseiten und Social-Media-Kanälen ausgewählter Akteur:innen aus dem Spektrum in die Datenanalyse aufgenommen.
Einer der Schwerpunkte der Untersuchung lag auf der Identifikation zentraler Akteur:innen (Personen, Gruppierungen, Organisationen) der Salafiyya in der Deutschschweiz und deren Beziehungen zueinander. Ausserdem standen Prozesse der Hinwendung zur Salafiyya und der Abwendung von ihr im Fokus: Was macht die Salafiyya attraktiv respektive welche Bedürfnisse wollen Menschen in der Salafiyya erfüllen und wann sehen sie diese allenfalls nicht mehr als erfüllt an? Ein weiteres Interesse galt den Positionierungen von Salafis gegenüber Staat und Gesellschaft einerseits und muslimischen Mainstream-Gruppierungen andererseits: Nehmen sie am gesellschaftlichen und politischen Leben teil? Wie unterscheidet sich die Glaubenspraxis der Salafis von der Praxis anderer in der Schweiz lebender Musliminnen und Muslime? Und schliesslich sollten Einblicke in extremistische Strukturen im Umfeld der Salafiyya gewonnen sowie Faktoren, die in diesem Umfeld zu einer Radikalisierung beitragen, aufgezeigt werden.
Die Übergänge zwischen der Salafiyya und anderen islamischen Strömungen konservativer oder fundamentalistischer Prägung sind fliessend und Abgrenzungen nicht immer leicht, zumal die betroffenen Muslime Labels wie «Salafi», «Wahhabi», «Muslimbruder» usw. in aller Regel ablehnen. Selbst- und Fremdbezeichnungen helfen also nicht weiter und inhaltlich gibt es zahlreiche Gemeinsamkeiten von Salafis mit anderen – auch dem muslimischen Mainstream angehörenden – Richtungen. Für die Abgrenzung des Forschungsfeldes wurde aus diesem Grund eine Definition gewählt, die verschiedene Kriterien nennt, von denen eine Mehrheit im Einzelfall zutreffen muss, um Akteur:innen (Personen, Institutionen) oder einen Diskurs der Salafiyya zuzuordnen. Umgekehrt kann eine Zuordnung aufgrund einzelner Kriterien nicht gemacht werden, da die Salafiyya in vielem auch etablierte islamische Vorstellungen aufgreift, diese dann aber ggf. auf eigene Weise akzentuiert oder auslegt. Zu den Kriterien gehören z. B. der Bezug auf den Koran, die Überliefungen von Aussagen und Handlungen des Propheten Muhammad und seiner Gefährten (Sunna) und die «frommen, tugendhaften Altvorderen» (arab. as-Salaf as-Sālih), die Anprangerung neuer religiöser Deutungen und Praktiken als unerlaubte Neuerung (arab. bidaʿ) sowie etwa ein wortgetreues Verständnis der Quellen, eine dichotome Weltsicht, das Beharren auf einer «rationalen» und schriftbasierten Herleitung jeglicher Argumente oder eine aktive Missionstätigkeit (daʿwa, d. h. «Einladung» zum Islam).
Die Ergebnisse des Forschungsprojekts «Salafismus in der Deutschschweiz» zeigen, dass die in den Massenmedien implizierten Bilder vom Salafismus nur sehr bedingt zutreffen. Festzuhalten ist zuallererst, dass die Salafiyya in der Deutschschweiz klein (je nach zugrunde gelegter Kategorisierung zwischen 400 und 1100 Personen), in sich heterogen und dynamisch ist. Es existieren mehrere Cluster, d. h. Gruppen von Personen mit gemeinsamen Merkmalen (hinsichtlich ihrer Zuordnung zum Salafismus). Diese Cluster unterscheiden sich deutlich voneinander und grenzen sich mitunter aktiv voneinander ab.
Ein Cluster hat sich rund um Schweizer Studenten und Absolventen der Islamischen Universität Medina formiert und orientiert sich an deren Lehrinhalten. Es ist gekennzeichnet durch eine apolitische Haltung und einen Fokus auf religiöse Bildung. Ein weiteres Cluster rund um den Islamischen Zentralrat Schweiz (IZRS, seit kurzem als IZR firmierend) zeichnet sich durch eine starke Ausrichtung auf die Schweizer Politik und Gesellschaft aus, wo der IZRS in den 2010er-Jahren deutliche Positionen vertrat und immer wieder provozierte. In dogmatischen und islamrechtlichen Fragen legte sich der IZRS hingegen oft nicht fest, um seinem Anspruch, die Muslime in der Schweiz in der Breite vertreten zu können, gerecht zu werden. Ein drittes, extremistisches Cluster lässt sich nur ansatzweise ausmachen. In den Medien am besten dokumentiert wurde eine Gruppe rund um ehemalige Besucher der An-Nur-Moschee in Winterthur, über deren weltanschauliche Ausrichtung aktuell aber nur wenig Konkretes bekannt ist.
Allgemein, d. h. über alle Cluster hinweg, ist die Salafiyya vor allem, aber nicht ausschliesslich, für Jugendliche und junge Erwachsene attraktiv, die ein starkes Bedürfnis nach Orientierung oder Gemeinschaft haben und noch nach ihrer Identität suchen. Häufig kommt es danach auch wieder zu Distanzierungen oder expliziten Abwendungen, wenn sich die Bedürfnisse im Laufe biographischer Prozesse verändern. Ebenfalls in allen Clustern gibt es – entgegen dem Klischee – auch Frauen. Sie bewegen sich – mit Ausnahme der IZRS-Frauen – stärker in informellen Gruppen im privaten oder halb-privaten Bereich. Es gibt auch reine Frauengruppen wie etwa eine im Forschungsprojekt untersuchte Gruppe, die sich vorwiegend im virtuellen Raum miteinander austauscht. Der Erwerb islamischen Wissens spielt für die Mitglieder eine prominente Rolle, lange Zeit war für sie aber auch die Schweizer Politik von grosser Bedeutung. Das Beispiel veranschaulicht, dass einzelne Personen und Gruppen z. T. unterschiedlichen Clustern zugeordnet werden können/müssen, dass sich diese Zuordnungen über die Zeit aber auch verändern können.
Eine Orientierung an Vorstellungen der Salafiyya darf nicht bereits als «Radikalisierung» gedeutet werden – zumindest dann nicht, wenn man unter Radikalisierung den fortschreitenden Absolutheitsanspruch der eigenen Position, die Abwendung von Staat und Gesellschaft (bei gleichzeitiger Hinwendung zu extremistischen Milieus) und die zunehmende Akzeptanz physischer Gewalt als legitimes Mittel betrachtet. Nur in Ausnahmefällen und nur in Verbindung mit weiteren Faktoren nimmt der Salafismus eine extremistische Form an. In diesen Fällen können Ursachen und Verlauf sehr unterschiedlich sein, nicht immer besteht ein Bezug zu religiösen Überzeugungen. Wichtiger sind dann Faktoren wie eine hohe Gewaltaffinität, die eigene Perspektivlosigkeit und das Bedürfnis, Grenzen auszutesten.
Dr. Silvia Martens, Dr. Jürgen Endres und Dr. Andreas Tunger-Zanetti sind Mitarbeitende am Zentrum Religionsforschung der Universität Luzern. Silvia Martens ist zudem Koordinatorin und Studienberaterin des ZRWP.