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In aktuellen politischen Diskursen werden «die Anderen» oftmals zur Selbstvergewisserung, Abgrenzung und Identitätsbildung benutzt. Sie selbst kommen dabei meist kaum zu Wort. Wie ist damit umzugehen, wenn immer nur über und nie mit Minderheiten gesprochen wird, und womit ist zu rechnen, wenn die Ab- und Ausgegrenzten dann doch das Wort ergreifen? Ein Blick auf den Umgang der christlichen Mehrheit mit der jüdischen Minderheit im Mittelalter verspricht: kaum Gutes und einen Lichtblick.
Von Maria Lissek
«Frauen liegt die Fürsorge einfach näher», «Er isch ebe ä Jud», «Zieh den Rock aus – du bist ein Junge!» – Menschen, die aufgrund ihrer Religion, Hautfarbe, Herkunft, geschlechtlichen oder sexuellen Identität einer oder mehreren Minderheiten angehören, dürften diese oder ähnliche Aussagen wohlbekannt sein. Dem Gegenüber zu sagen, wie es ist, um durch Abgrenzung die eigene Identität zu stärken, ist ein bekanntes Phänomen. Demgegenüber setzen sich Angehörige von Minderheiten aber auch zur Wehr – denken wir hier beispielsweise an die Frauenbewegung und den alljährlichen Frauenstreiktag am 14. Juni, an den queeren Pride-Monat Juni oder Initiativen wie #metoo oder #blacklivesmatter. Diese und ähnliche Vorstösse haben gemeinsam, dass Minderheiten sich nicht mehr von anderen sagen lassen, wer sie sind, was sie wollen und womit sie sich zufriedengeben sollen. Sie wollen gesehen und gehört werden. Dafür rufen sie der Mehrheitsgesellschaft zu: «Jetzt hört ihr uns zu!»
Die eigene Identität durch Abgrenzung zu konstruieren, ist wahrlich kein (post-)moderndes Phänomen. Ein Blick in die christlich-jüdische Geschichte zeigt: Andersheit und Fremdheit des jüdischen Gegenübers evozierte viele Ausgrenzungsmechanismen, die mitunter gewaltvoll endeten. Das Mittelalter bietet hier zahlreiche Episoden einer christlichen Schuldgeschichte: das Erwerbsleben von jüdischen Menschen wurde eingeschränkt, sie wurden aus Städten wie Zürich und Bern vertrieben und es wurden sogar Pogrome an ihnen verübt, weil ihnen z. B. vorgeworfen wurde, Wucher zu betreiben oder für die Pest verantwortlich zu sein. Wie heute war auch das mittelalterliche Judentum eine Minderheit. Ihren Angehörigen wurde damals von der christlichen Mehrheitsgesellschaft auf verschiedene Weise vermittelt, wie sie seien, was sie so dachten, wo ihr Platz in der Welt und der Heilsgeschichte sei sowie was sie deshalb tun sollten und nicht machen dürften. Davon zeugen zahlreiche literarische Dialoge aus christlicher Feder.
Christliche literarische Dialoge geben vor, reale Gespräche mit jüdischen Menschen wiederzugeben und die christliche Religion als die einzig wahre ausweisen zu können. Ob sie auf tatsächlich stattgefundene Gespräche zurückgehen, ist fraglich und in vielen Fällen sogar auszuschliessen. Auch wenn es Berührungspunkte im Alltag oder arrangierte Disputationen zwischen christlichen und jüdischen Gelehrten (sic!) gegeben hat, sind diese Dialoge ein Produkt der Schreibtischarbeit. Ihre jeweiligen Autoren (sic!) haben darin reale Interaktionserfahrungen und/oder ihre Beschäftigung mit dem Judentum – damals in der Regel gleichgesetzt mit dem Alten Testament – verarbeitet. Sie sahen sich zu dieser Tätigkeit gezwungen, denn: Wie kann es nach wie vor Menschen geben, die nicht an Jesus Christus als den gekommenen Messias glauben, wenn das Christentum doch die einzig wahre Religion ist? Der jüdische Glaube, den sie durch das Zusammenleben mit der Minderheit kennenlernten und miterlebten, hielt ihnen somit tagtäglich eine Andersheit vor Augen. Eine Andersheit, die sie in Frage stellte und die sie dazu zwang, sich ihres eigenen – in diesem Fall christlichen – Selbstverständnisses gewiss zu werden. Für diese Selbstvergewisserung war im 12. Jahrhundert der christliche literarische Dialog das Mittel der Wahl.
Petrus Alfonsi (11./12. Jahrhundert; Lebensdaten unbekannt) und Gilbert Crispin (1046–1117) sind zwei prominente Beispiele, die sich des literarischen Dialogs als Mittel zur eigenen christlichen Selbstvergewisserung bedienten. Petrus Alfonsi wurde im muslimisch geprägten Andalusien als Jude geboren. Von ihm ist ein Dialog überliefert, der sogenannte Dialogus. Darin gibt er ein fiktives Gespräch zwischen seinen beiden alter ego wieder: der Jude Moses (Moyses) vor und der Christ Petrus nach der Konversion 1106 – es handelt sich also ganz offensichtlich um einen fiktiven Dialog. Gilbert Crispin hingegen hatte als Abt von Westminster direkten Kontakt zu jüdischen Gelehrten und Handeltreibenden. Diese Begegnungen verarbeitet er in seinem «Dialog mit einem Juden» (Disputatio Iudaei et Christiani). Beide Dialoge entstehen Anfang des 12. Jahrhunderts. Auch wenn ihre Ausgangssituationen unterschiedlich sind, so haben sie doch eines gemeinsam: Alfonsi und Gilbert machten sich ein Genre zunutze, das im Mittelalter einen regelrechten Boom erlebte. Genau wie andere christliche Gelehrte ihrer Zeit schrieben sie damit gegen die Realität an: In Wahrheit fand kaum ein ‹echter› Dialog, also offener und auf Augenhöhe, zwischen Christ:innen und Vertretenden des Judentums statt. Stattdessen ermöglichte das Verfassen dieser literarischen Dialoge zum einen die Reflexion und ein subjektives Verstehen dessen, wer ‹die Juden› und wer sie, als Christ:innen, im Angesicht dieser anderen sind. Zum anderen gaben sie damit ihren Lesenden sowohl eine ‹Hit-Liste› antijüdischer Polemiken als auch Hinweise an die Hand, wie jüdischen Menschen im ‹Ernstfall› zu begegnen und was ihnen zu entgegnen sei.
Die eine oder andere Aussage dieser ‹Hit-Liste› für die Frage, wer ‹der Jude› sei, mag in heutigen Ohren gar nicht so mittelalterlich wirken: ‹der Jude› sei uneinsichtig und verstockt, für Katastrophen verantwortlich, gierig und für Geldhandel zuständig, reich, Schuld am Tod Jesu, verblendet, in der Bibel nicht geschult, ungebildet, unfähig Jesus als Messias anzuerkennen, Ritualmörder und ein Wesen ohne jegliche Vernunft, ja Tieren ähnlicher als Menschen – um nur ein paar der antijüdischen Aussagen zu nennen, die sich bei Alfonsi, Gilbert und ihren Kollegen finden lassen. Diese Vorwürfe kleiden sie in Argumentationen, die ihrer Ansicht nach auf der Bibel fussen und sich auf die Vernunft als Hilfsmittel zur Legitimation der Aussagen berufen. Die christlichen Autoren konnten sich so nicht nur selbst darüber vergewissern, dass die jüdische Präsenz für ihre Realität keine wirkliche Gefahr darstellte, sie vermittelten mit ihren literarischen Dialogen auch anderen ihre Wahrnehmung und prägten so die Haltung gegenüber und den Umgang mit der jüdischen Minderheit in ihrer Gegenwart und Zukunft. Eine antijüdische Prägung, die fatale Folgen bis in die Moderne haben sollte. Doch erweist sich eine solche Realitätsschöpfung nur dann als vollumfänglich geglückt, wenn sich keine jüdische (Gegen-)Stimme zu Wort meldet.
Rund ein halbes Jahrhundert nach Alfonsi und Gilbert meldete sich mit Jakob Ben Reuben ein jüdischer Gelehrter zu Wort. Ihm waren nicht nur die antijüdischen Polemiken seiner Zeit bekannt, sondern er hatte auch von den älteren Dialogen Alfonsis und Gilberts ziemlich gute Kenntnis. Sein Werk «Kriege Gottes» (Milchamot HaShem) ist ebenfalls als literarischer Dialog konzipiert. Darin debattiert eine jüdische Figur, das alter ego Ben Reubens, mit einem christlichen Kleriker über die Einheit Gottes. Einige der Aussagen der christlichen Figur erinnern dabei sehr stark an antijüdische Argumentationsweisen in den Dialogen von Alfonsi und Gilbert; streckenweise werden beide sogar wörtlich wiedergeben. Die jüdische Dialogfigur greift diese auf, um die Angriffe als unhaltbar, das Christentum als die falsche und das Judentum als die wahre Religion zu beweisen. Ben Reuben verschaffte sich somit Gehör – gegen die christliche Mehrheitsgesellschaft, die der jüdischen Minderheit Tag ein Tag aus sagte, wer sie sei, was sie wolle und was sie solle.
Ben Reuben sprach durch seinen Dialog vermittelt über seine Dialogfiguren die christliche Mehrheit direkt an. Er machte ihnen deutlich, dass sie – in den christlichen literarischen Dialogen und ihrer Bibelauslegung insgesamt – den Vernunftgebrauch mit subjektivem Empfinden verwechselten und dass der christliche Glaube damit zutiefst irrational sei. Er argumentierte, dass es keinerlei nachvollziehbare Gründe für die christlichen Dogmen wie den trinitarischen Glauben oder die Geburt Jesu als Gottes Sohn von einer Jungfrau gäbe. Der Kern der christlichen Irrlehre bestand nach Ben Reubens darin, das Alte Testament aus der Retrospektive des Neuen und damit aus der Sicht von später Entstandenem zu lesen. Zudem zeige sich, dass die Bibelstellen häufig aus ihrem Kontext gerissen und so für die eigene Argumentation instrumentalisiert würden. Das Christentum fusse grundlegend auf falschen Annahmen und biblischem Unwissen und seine Mitglieder litten an der ihnen typischen Arroganz. Mit diesen Vorwürfen und der Etablierung antichristlicher Polemiken reagierte Ben Reuben auf die christlich geschaffene antijüdische Realität. Ben Reuben zwang die christliche Mehrheit ihm und mit ihm der jüdischen Minderheit zuzuhören. Er formte damit eine andere Gegenwart und Zukunft für seine Lesenden: Vor ihren Augen entstand eine Wirklichkeit, in der antijüdische Polemiken keine Basis hatten. Gegen die christliche antijüdische Realität anschreiben hiess somit gegen Stereotypisierung, Diskriminierung und Unterdrückung das Wort zu ergreifen. Wenn auch damit der Lauf der Geschichte nicht aufgehalten wurde, so ist mit der Antwort Ben Reubens immerhin ein Zeugnis jüdischer Selbstbestimmtheit innerhalb der christlichen Mehrheitsgesellschaft des Mittelalters überliefert.