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Auch wer keinen Rat sucht, wird des Öfteren ungefragt damit bedacht. Dabei geht es nicht immer (nur) darum, Schlechtes abzuwenden und Gutes zu schaffen, sondern auch um die soziale Positionierung von Ratgebenden und Ratempfangenden. Das trifft auch auf die muslimische Praxis des nasiha-Gebens zu. Hier kommt allerdings noch hinzu, dass man mit einem guten Rat Gott gerecht werden und jenseits institutioneller Autoritäten religiöses Wissen vermitteln kann.
Von Dominik Müller
Als ich Vater wurde, waren sie plötzlich da: die gut gemeinten Ratschläge. Sie kamen oft aus erwartbaren, manchmal aber auch aus ungeahnten Ecken des Panoptikums der Fürsorge – von (Schwieger-)Eltern, Verwandten, Freund:innen, Nachbar:innen oder sogar von freundlich gesinnten Fremden im Bus. Oftmals waren solche Ratschläge hilfreich und zeugten von Interesse und Wohlwollen, meistens waren sie jedoch auch ungefragt oder gar unangebracht. Diese Praxis des (ungefragten) Erteilens von Ratschlägen begegnet frischgebackenen Eltern besonders häufig, ist aber auch sonst selbstverständlicher Teil unseres Soziallebens – und hat eine äusserst interessante Entsprechung im muslimischen Alltagsleben.
Sowohl bei meinen Forschungsinterviews als auch in Alltagsgesprächen mit Muslim:innen in der Schweiz und in der Türkei begegneten mir immer wieder ganz verschiedene Formen des Ratgebens. Das Spektrum reicht von Ratschlägen zur religiösen Praxis und zum Glauben im engeren Sinne bis hin zu alltagsbezogenen Ratschlägen zum Hauskauf, zur Wahl des Studienfachs oder zur Kindererziehung. Gemeinsam ist diesen unterschiedlichen Ratschlägen der Versuch, Gutes zu gebieten und Schlechtes zu verhindern – ein Prinzip, das im Koran eine wichtige Rolle spielt und als Element der islamischen Sozialethik zwischenmenschliche Beziehungen prägt. Aber nicht nur das hehre Ziel der Ratschläge lässt sich in der islamischen Tradition verorten, auch das Erteilen der Ratschläge wird oft religiös legitimiert. Das zeigt sich schon in der türkischen Redewendung: din nasihattir. Übersetzt bedeutet das so viel wie «Die Religion ist aufrichtiger Ratschlag». Der Satz geht auf eine Aussage des Propheten Muhammed (auch hadith genannt) zurück, die er gegenüber seinen Gefährten geäussert haben soll. Auf ihre Nachfrage, wem gegenüber der Ratschlag denn erteilt werden soll, habe Muhammed gesagt: «gegenüber Allah, seinem Propheten, seiner Offenbarung, den Gelehrten und den einfachen Menschen». Diese Aufzählung erscheint auf den ersten Blick seltsam, denn es ist nicht unmittelbar nachvollziehbar, wie und warum ein Mensch Gott nasiha, also einen Ratschlag, zukommen lassen soll. Dieser vermeintliche Widerspruch lässt sich durch die Mehrdeutigkeit des arabischen Begriffs erklären: Nasiha bedeutet nämlich nicht nur «jemandem einen Rat geben», sondern kann auch «aufrichtig sein» oder «jemandem Gerechtigkeit widerfahren lassen» heissen. Nasiha gegenüber Gott zu praktizieren bedeutet also nicht, Gott Ratschläge zu erteilen, sondern vielmehr Gott und seinen Geboten gerecht zu werden. Das Gleiche gilt für nasiha gegenüber dem Propheten oder der Offenbarung. In dieser Ambiguität des Begriffs zeigt sich die Verschränkung der Bedeutungen in der nasiha-Praxis. Wenn jemand einem Mitmenschen einen aufrichtigen Ratschlag erteilt, so wird er auch Gott gerecht, in dem er beispielsweise die Anderen auf Gottes Gebote aufmerksam macht und so für das Seelenheil und Wohl der Mitmenschen sorgt. Ganz so einfach ist es allerdings nicht, denn was in der Theorie harmlos klingt, ist in der alltäglichen Praxis oftmals umstritten und konfliktiv – und macht gerade dadurch Autoritätsstrukturen sichtbar.
Wie bereits eingangs erwähnt, werden Ratschläge – nicht nur im muslimischen Alltag – oft ungefragt erteilt. Es sind also nicht immer Ratsuchende, die sich mit einer Frage an Mitmenschen wenden, sondern auch die Ratgeber:innen selbst, die sich berufen fühlen, ihr Wissen und ihre Erfahrungen weiterzugeben. Im Rahmen meiner Forschung in Moscheen in der Schweiz und der Türkei konnte ich beobachten, dass nasiha zumeist zwischen Personen erteilt wird, die in keiner institutionalisierten religiösen Beziehung oder Hierarchie zueinander stehen. Konkret bedeutet dies, dass die Ratschläge nicht zwischen dem Imam und den Gemeindemitgliedern gegeben wurden, sondern eben unter den Gemeindemitgliedern selbst. Zugleich – und hier schwelt das konfliktive Potenzial des Ratschlaggebens – basiert diese Praxis in der Regel auf einer wahrgenommenen oder auch gegebenen epistemischen Ungleichheit: die den Rat gebende Person tut dies in der Annahme, besser über etwas Bescheid zu wissen, als die mit dem Rat adressierte Person. Aus dieser Perspektive wird auch das Ratschlagen zu einer Autoritätsbeziehung. Die Praxis des Ratschlaggebens ist somit eine zeitlich beschränkte Neuaushandlung der sozialen Beziehung und rückt Personen, die zuvor zumeist nicht in einem hierarchischen Verhältnis zueinanderstanden, in ein solches. Daher kann das Ratschlagen auch eine Praxis der sozialen Grenzziehung sein. Gerade das ungefragte Erteilen von Ratschlägen hat oftmals die Funktion, die mit dem Rat adressierte Person auf ihren vermeintlichen Platz im sozialen Gefüge zu verweisen.
Nun dürfte die mit dem Ratgeben verbundene Selbst- und Fremdpositionierung auch in säkularen Kontexten zu beobachten sein. Die Praxis des nasiha-Gebens verdeutlicht aber auch die verschiedenen Dimensionen, aus denen sich religiöse Autorität speisen kann, und rückt das Spannungsfeld zwischen der textuellen Autorität religiöser Schriften und der Autorität des Individuums in den Fokus. Besonders deutlich zeigt sich das, wenn nicht nur die Motivation für das Erteilen von Ratschlägen religiös legitimiert wird, sondern auch ihre Inhalte einem islamisch-normativen Referenzrahmen folgen – beispielweise durch den Verweis auf den Koran oder die Prophetentradition. Wenn Passagen aus dem Koran oder Handlungen und Aussagen von Muhammed herangezogen und auf konkrete Situationen im Alltag angewendet werden, ist die nasiha-Praxis nicht nur auf die Beziehung zwischen Ratgebenden und -empfangenden begrenzt, sondern gleicht einer sozialen Triade, die das Göttliche miteinschliesst und sich darüber konstituiert.
Die Autorität der religiösen Schriften verleiht dem Ratschlag ein Gewicht, weshalb ein solcher Ratschlag – ob gefragt oder ungefragt – von den Empfänger:innen nicht einfach ignoriert oder abgelehnt werden kann. Auf der anderen Seite steht die persönliche Autorität des Individuums, die den Ratschlag erteilt, und sich beispielsweise aus der Lebensführung, der Frömmigkeit, dem Alter oder dem sozialen Ansehen in der jeweiligen Gemeinschaft speist. Während die Autorität der normativen Schriften oftmals nicht angezweifelt werden kann, kann die Autorität der Person und ihre Berechtigung, Ratschläge zu erteilen, durchaus zur Diskussion stehen. Daher ist es zumeist die individuelle Autorität der ratschlaggebenden Person, die angezweifelt wird, wenn die Empfänger:innen einen Rat zurückweisen möchten.
Ungeachtet der Konflikte, die die Praxis des nasiha-Gebens hinsichtlich Autorität und Hierarchien auslösen bzw. sichtbar machen kann, handelt es sich dabei um eine spezifische Form der religiösen Wissensproduktion bzw. Wissensvermittlung. Während sich die Weitergabe religiöser Inhalte durch formelle Autoritätsfiguren in Moscheen – etwa bei Freitagspredigten, Vorträgen oder im Religionsunterricht – häufig auf die abstrakte Vermittlung religiöser Lehren konzentriert, werden bei der Praxis des Ratschlagens zwischen Gemeindemitgliedern Glaubensinhalte situationsbezogen interpretiert und auf konkrete Alltagssituationen angewandt. Sie stellen damit gerade im Kontext des Islams in Europa Schlüsselmomente dar, in denen religiöse Normen und Praktiken alltagsbezogen angewendet und aktualisiert werden. Durch die Verknüpfung von religiösen Normen und sozialen Praktiken wird deutlich, dass die nasiha-Praxis nicht nur eine zwischenmenschliche, sondern auch eine spirituelle Dimension besitzt, die die soziale Realität der Gläubigen formt und beeinflusst – durch sie werden religiöse Schriften und Lehren im sozialen Leben der Gläubigen lebendig.