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Für Musliminnen und Muslime stellt sich bei medizinischen Eingriffen nicht nur die Frage nach Wirksamkeit und Risiken, sondern auch danach, ob sie «islamkonform» sind. Antworten liefert traditionellerweise die islamische Rechtslehre. Bei präventiven Eingriffen wie vorbeugende Brustentfernungen bei erhöhtem Krebsrisiko ist die Sachlage kompliziert.
Von Hadil Lababidi
Der Islam durchdringt als Normen- und Wertesystem alle Lebensbereiche der Gläubigen und dient ihnen als moralische und spirituelle Richtschnur. Deshalb ist es vielen Musliminnen und Muslimen wichtig, basierend auf ethischen Überzeugungen zu handeln, die unmittelbar mit islamischen Grundwerten verknüpft sind. Das betrifft auch medizinethische Fragen, bei denen sich Gläubige in der Regel an Rechtsgelehrte wenden. Diese können abwägen, ob eine Behandlung oder ein Medikament aus islamischer Sicht zulässig, empfehlenswert, neutral, verpönt oder verboten ist. Medizinethische Fragen fallen traditionellerweise in den Bereich des islamischen Rechts und werden dort behandelt. Die islamisch geprägte Medizinethik ist daher vorwiegend kasuistisch: Eine bestimmte Frage wird von einem Rechtsgelehrten in einem Ersuchen angesprochen und eine (unverbindliche) Empfehlung (fatwā, pl. fatāwā) ausgesprochen. Ein wichtiger Grundsatz lautet dabei, dass ein medizinischer Eingriff nur im Notfall vorgenommen werden soll. Entsprechend wird z. B. die Behandlung von Krebs in islamisch geprägten medizinethischen Debatten nur im Zusammenhang mit einer möglichen Heilung diskutiert.
Bei Brustkrebs, der weltweit häufigsten Krebserkrankung bei Frauen, kann jedoch auch eine vorbeugende radikale Brustentfernung, eine sogenannte Mastektomie, eine Behandlungsoption sein, wenn ein genetisch erhöhtes Risiko besteht. Für viele Musliminnen und Muslime stellt sich dann die Frage, ob eine präventive Entfernung und die Wiederherstellung der Brust islamkonform sind. In diesem Fall treten zwei Probleme auf: zum einen wird ein präventiver Eingriff und zum anderen eine Brustwiederherstellung unternommen, obwohl es sich bei beiden Situationen nicht um einen akuten Notfall handelt.
Da die Brustrekonstruktion unter das Thema der plastischen Chirurgie fällt, muss diesbezüglich die Resolution der Internationalen Islamischen Fiqh-Akademie[1] aus dem Jahr 2007 konsultiert werden.[2] Hier wird ein Eingriff zunächst dahingehend unterschieden, ob er einen kosmetischen oder rekonstruktiven Zweck erfüllt. Kosmetische Operationen, die nicht Teil der medizinischen Behandlung sind und darauf abzielen, die normale menschliche Form «nach Belieben» zu verändern, sind nicht erlaubt. Darunter fallen z. B. Operationen zur Veränderung der Gesichtsform, um ein bestimmtes Aussehen zu erreichen oder in der Absicht, die Justiz zu täuschen. Anders verhält es sich bei Rekonstruktionsoperationen, die der Beseitigung oder Korrektur von krankheitsbedingten körperlichen Mängeln oder Defekten («angeborene und erworbene Defekte») dienen; diese sind erlaubt. Beispielsweise ist die Entfernung eines zusätzlichen Zehs zulässig. Hierunter wird auch die Brustwiederherstellung nach einer Mastektomie gezählt, weshalb sie islamkonform ist. Auch die präventive Entnahme wird in vielen Rechtsauskünften als geboten beurteilt, wenn die Wahrscheinlichkeit sehr hoch ist, dass sich ein Brustkrebs entwickeln wird.[3]
Sowohl eine präventive Brustentnahme als auch die Brustwiederherstellung sind also islamkonform. Es ist jedoch zu bemängeln, dass die Begründung allein darauf abzielt, dass bei der Operation die «ursprüngliche Form» der Frau wiederhergestellt wird. Insbesondere wenn es um die Gesundheit von Frauen geht, werden psychologische Aspekte in der islamisch geprägten Medizinethik oft übersehen. Die Möglichkeit, sich für oder gegen eine Brustrekonstruktion zu entscheiden, bedeutet, dass die betroffene Frau die Gestalt der Brust beeinflussen kann. Dies kann ihr Selbstbewusstsein stärken, da sie hier eine aktive Entscheidung treffen kann, während sie mit dem Krankheits- und Behandlungsverlauf ansonsten einen Kontrollverlust verbindet.
Auf der einen Seite sprechen einige psychologische Aspekte gegen eine Brustrekonstruktion, weshalb sich manche Frauen dafür entscheiden «flach zu gehen» und/oder durch tragbare Prothesen für einen äusseren Ausgleich zu sorgen. Vor allem sind zu erwartenden Beschwerden durch einen zweiten bzw. weitere Eingriff(e) ein Grund gegen eine Rekonstruktion. Des Weiteren kann die Vermutung, Brustimplantate würden die Entstehung von Brustkrebs begünstigen, Frauen daran hindern, eine Brustrekonstruktion durchführen zu lassen. Schliesslich versprechen sich Betroffene, ohne zusätzlichen Eingriff schneller ins «normale» Leben zurückzukehren.
Auf der anderen Seite helfen viele Faktoren, die mit einer Brustwiederherstellung einhergehen, betroffenen Frauen, zurück zur Normalität zu finden. Zum einen kann die Brustrekonstruktion sie – und auch ihr Umfeld – die Krebserkrankung und -behandlung leichter vergessen lassen. Zum anderen spielt für manche Frauen der ästhetische Aspekt eine wesentliche Rolle, weil die Brust einen Teil ihrer Identität und ein Sinnbild ihrer Weiblichkeit darstellt. Zuletzt erhoffen sich Betroffene sowohl für die eigene Libido als auch für den/die Partner/in eine Verbesserung des Sexuallebens.
Die psychologischen Aspekte im Zusammenhang mit Brustrekonstruktionen sind vielfältig und können sich unterschiedlich auf die Entscheidungsfindung auswirken. Wichtig ist dabei jedoch, dass Frauen mit all ihren Bedürfnissen und Wünschen als Subjekte in den islamisch geprägten medizinethischen Diskursen anerkannt werden ‒ der gleiche Grundsatz gilt natürlich auch für Männer. Deshalb würden sowohl Männer als auch Frauen davon profitieren, wenn ein Eingriff auch nach seinen körperlichen und psychischen Folgen beurteilt werden würde. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass eigenständige Reflexionen erforderlich sind, um zu eruieren, wie mit bestimmten Behandlungsfragen islamkonform umzugehen ist. Innerislamische Diskurse sollen natürlich nicht ausser Acht gelassen werden, es muss jedoch kritisch hinterfragt werden, wie methodisch vorgegangen wurde. Gerade auf diese Weise werden ein differenzierter islamisch geprägter medizinethischer Diskurs gefördert und eine «Ambiguitätstoleranz», die charakteristisch für die Kultur des Islams ist, gelebt.