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Theologische und Religionswissenschaftliche Fakultät

Mit den Augen einer Astronautin

Die VR-Brille als Resonanzraum spirituell-existenzieller Erfahrungen

Seit es Computerspiele gibt, wird darüber diskutiert, in welcher Beziehung sie zur Realitätswahrnehmung der Spielenden stehen. Im Zusammenhang mit Virtual Reality (VR) stellt sich diese Frage noch akuter und auf ganz neue Weise: VR-Brillen erlauben es, komplett in eine digital generierte Welt einzutauchen. Anders als herkömmliche Bildschirme bietet dieses Medium neue Möglichkeiten, sich in immersiven virtuellen Umgebungen zu verlieren. Doch dieses Medium kann auch verwendet werden, um sich mit intellektuell, emotional und ethisch anspruchsvollen Themen zu befassen.

Von Fabian Winiger

«Ich erlebte etwas, das man als Ekstase der Vereinigung beschreiben kann. Ich sah die Verbundenheit nicht nur, ich fühlte sie und erlebte sie mit allen Sinnen. Ich war überwältigt von dem Gefühl, mich körperlich und geistig in den Kosmos auszudehnen. Die Fesseln und Grenzen von Fleisch und Knochen fielen weg. […] Klar war jedoch, dass die traditionellen Antworten auf die Fragen ‹Wer sind wir?› und ‹Wie sind wir hierhergekommen?›, die sowohl von der Wissenschaft als auch von religiösen Kosmologien hergeleitet werden, unvollständig, veraltet und fehlerhaft sind. Dieser Prozess beinhaltet mehr, als wir uns bisher erträumt haben.» [1]

Mit diesen Worten beschrieb Edgar D. Mitchell ein Gefühl, das ihn überwältigte, als er 1971 an Bord der Mondlandefähre zur Kommandokapsel von Apollo 14 zurückkehrte. Mitchell befand sich in einem Zustand, der von Astronaut:innen als «Overview-Effekt» bezeichnet wird: Eine profunde, fast schon mystische Erfahrung, die zu einem «kognitiven Shift» führt, der selbst den hartgesottenen Piloten der US-amerikanischen Kriegsmarine nach Worten ringen liess. In manchen Astronaut:innen führte der transformative Blick vom Raumschiff auf die Erde zu einer grundlegenden Wandlung ihrer Wahrnehmung, wie sie damals nur im Zusammenhang mit bewusstseinserweiternden Substanzen beschrieben wurde. Apollo 14 beförderte Mitchell zum einen in den Weltraum, zum anderen in einen neuen Resonanzraum, in dem der Raumfahrer eine neue «Weltbeziehung» (Hartmut Rosa) entwickelte:

«Du entwickelst sofort ein globales Bewusstsein, eine menschliche Orientierung, eine intensive Unzufriedenheit mit dem Zustand der Welt und den Zwang, etwas dagegen zu tun. Von dort draussen auf dem Mond sieht die internationale Politik so kleinlich aus. Man möchte einen Politiker am Genick packen, ihn eine Viertelmillion Kilometer weit wegschleifen und sagen: ‹Sieh dir das an, du Mistkerl›.» [2]

Schülerin mit aufgesetzter Virtual-Reality-Brille vor einem technisch-modernen Hintergrund (weisse und hellblaue, in einem wilden Muster angeordnete Würfel mit leuchtenden Kanten auf dunkler Fläche)
Können VR-Brillen virtuelle Räume schaffen, in denen Benutzer:innen ihre Weltbeziehung neu denken? – Eine Kantonsschülerin blickt im Rahmen eines Workshops zum Thema «Empathie» in eine virtuelle Realität. (Bild: Dominique Grüter)

VR-Brillen: ein (Resonanz-)Raumschiff?

Können wir durch VR-Brillen virtuelle Räume schaffen, in denen Benutzer:innen auf ähnliche Weise mit unserem Planeten in Resonanz gehen und ihre Weltbeziehung neu denken können? Tatsächlich zeigen Forschungsergebnisse, dass auch der virtuelle Blick vom Weltraum auf die Erde ein profundes Gefühl der Ehrfurcht auslösen kann.[3] Im Rahmen des Lehrgangs «Digital Skills» der Digital Society Initiative setzten wir uns im Herbstsemester 2023 mit Studierenden der Universität Zürich anhand einer experimentellen Studie mit genau dieser Frage auseinander: Kann die virtuelle Betrachtung der Erde aus dem Weltall zu einer ähnlichen Veränderung in der Wahrnehmung unseres Planeten führen, wie sie von ehemaligen Astronaut:innen berichtet wird?

Der simulierte Blick von Astronaut:innen auf die Erde ist lediglich eines von vielen Beispielen eines aufkommenden Genres religiös-spirituell inspirierter VR-Spiele und gamifizierter Anwendungen, die auf die Produktion sinnstiftender Erfahrungen abzielen. So führt Notes on Blindness die Benutzer:innen in die auditorische Welt eines erblindenden Theologen ein, in der das Sichtbare verschwindet und die akustischen Eindrücke an Bedeutung gewinnen; macht Goliath: Playing with Reality deutlich, wie Videospiele Zufluchtsorte für Schizophreniekranke bieten, und zeigt On The Morning You Wake (To the End of the World), wie Menschen auf die letzten Minuten vor einer atomaren Apokalypse reagieren könnten. Vom Gemeinschaftsgefühl der virtuellen Taufe über die Meditation mit einem virtuellen «Spirit Guide» bis hin zum Austausch über psychische Probleme am virtuellen Lagerfeuer stellen VR-Erfahrungen Benutzer:innen vor ethisch und existenziell aufgeladene Herausforderungen. Das transformative Potenzial von VR wurde auch von Technologieunternehmen wie Meta erkannt und genutzt: Der Grosskonzern, der u. a. hinter Facebook und der VR-Brille Quest 3 steht, kuratiert mit VR For Good eine Reihe von VR-Applikationen, die «Verbundenheit, Empathie und Gleichstellung» fördern sollen.[4]

Die Erfahrung und Vermittlung solcher Inhalte durch VR bietet Theolog:innen und Religionswissenschaftler:innen reichhaltige Anknüpfungspunkte. VR-Erlebnisse bringen neue Formen der Verleiblichung (embodiment) und sensorischer Erfahrung mit sich. Sie laden dazu ein, in einen «radikal antisemiotischen Modus» einzutreten, in dem das Medium (d. h. die VR-Brille) für die Nutzer:innen transparent wird. Sie tauchen ein in Welten, die durch unmittelbare, haptische, fast schon kindliche Interaktion erlebt werden, die in Anlehnung an Emanuel Swedenborg als «Sprache der Engel» bezeichnet werden kann.[5] Staunend, greifend und meist wortlos bewegen sie sich darin, während die physische Welt, darin der eigene Leib, in Vergessenheit geraten. Die Zeit vergeht rasant, und wird das Gerät nach einigen Stunden wieder abgenommen, so erscheint die analoge Realität plötzlich blass und anstrengend.

VR-Räume schaffen mehr als zweidimensionale Oberflächen, sondern immersive künstliche Welten, in denen auch tiefgreifende Gefühle der Ehrfurcht, der Absurdität oder des existenziellen Schreckens entstehen, globale Gemeinschaftsgefühle erwachen oder Empathie und das Bedürfnis nach sozialer Gerechtigkeit aufkommen können.

Im Gegensatz zu Videospielen, die nebenbei auf Smartphones, im sozialen Setting mit Spielkonsolen oder Zuhause auf Computern gespielt werden, schaffen VR-Erfahrungen so virtuelle Begegnungs- und Resonanzräume, in denen Nutzer:innen quasi als virtuelle Raumfahrende in einem sicheren Rahmen mit intellektuell, emotional und ethisch anspruchsvollen Themen in Beziehung treten können.

Zwei Schülerinnen bewegen sich mit aufgesetzten VR-Brillen und einer Art Joysticks in den Händen durch den Raum. Eine blickt nach oben und hält einen Joystick schräg vor dem Gesicht, die andere blickt gerade aus. Sie nehmen sich gegenseitig offensichtlich nicht wahr. Im Hintergrund sieht man unscharf einen Raum mit allerlei technischen Geräten.
Staunend, greifend und wortlos tauchen Kantonsschülerinnen im MEEET Lab in fremde (virtuelle) Welten ein. (Bild: Dominique Grüter)

Ein Labor für virtuelle Resonanzräume: das MEEET Lab

Das Potential von VR in der Exploration existenzieller und spiritueller Themen wurde unlängst auch von Religionspädagog:innen entdeckt.[6] In der Praxis kommt die Technologie bislang jedoch nur selten zur Anwendung. Während Kinder und junge Erwachsene oftmals als «Early Adopter» gelten, werden der Unterrichtsbetrieb im Primar-, Sekundar- und Hochschulbereich von neuen Technologien oftmals überrascht und die Lehrpersonen überfordert. Wie ein Platzregen, so scheint es, stürzte etwa der Release von ChatGPT im Frühjahr letzten Jahres über die Bildungswelt herein.

Im Rahmen des MEEET Lab ermöglichen wir Pädagog:innen deshalb, aufkommende Technologien in einer niederschwelligen und praxisorientierten Atmosphäre kennenzulernen, sie in Begleitung von Theolog:innen und Sozialwissenschaftlicher:innen kritisch zu hinterfragen und mit ihren Schulklassen zu erkunden. Durch diesen  «Teach the Teacher»-Ansatz möchten wir Lehrpersonen im Hinblick auf die ethischen, existenziellen und spirituellen Fragen sensibilisieren, mit denen Nutzer:innen solcher Technologien konfrontiert werden, und ihnen die praktischen Fertigkeiten vermitteln, um sie proaktiv und sinnstiftend in ihren Unterricht zu integrieren.

Neben der Arbeit mit Lehrpersonen arbeiten wir im MEEET Lab auch direkt mit Schüler:innen und Student:innen, um (VR-)Erfahrungen dieser Art gemeinsam zu suchen und kritisch zu reflektieren. Der als Teil der Digital Society Initiative entwickelte Lehrgang ist bezeichnend für diesen Zugang und trug massgeblich zur Entwicklung des MEEET Lab-Ansatzes bei. Im Mai und Juli dieses Jahres entwickelten wir ihn in mehreren Workshops weiter, in denen Schüler:innen der Kantonsschulen Hohe Promenade und Küsnacht sinnstiftende virtuelle Realitäten und Resonanzräume rund um das Thema Empathie erkundeten. Veranstaltungen mit weiteren Kantonsschulen im Raum Zürich sind in Planung.
Ob als Arbeitsmittel in der Weiterbildung von Lehrpersonen, als didaktische Methode im Unterricht oder als Forschungsgegenstand: VR bietet insbesondere in der Religionspädagogik eine bislang selten fruchtbar gemachte und nur ansatzweise erforschte Technologie, zu deren Exploration das MEEET Lab einen Beitrag leistet.

Weiterführende Informationen

Zum Autor

Dr. Fabian Winiger ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Professur für Spiritual Care am Theologischen Seminar und beim Universitären Forschungsschwerpunkt «Digital Religion(s)». Er forscht zu Religion und Spiritualität im globalen Gesundheitswesen, zur Digitalisierung von Spiritual Care und zu Spiritualität und Säkularismus in multilateralen Organisationen.

Anmerkungen (Literatur)

[1] Mitchell, Edgar; Williams, Dwight (2008): The Way of the Explorer: An Apollo Astronaut’s Journey Through the Material and Mystical Worlds. Revised Edition. Franklin Lakes, NJ: New Page Books, S. 75.
 

[2] People staff (1974): Edgar Mitchell’s Strange Voyage. In: People Magazine, 8. April 1974, para. 1.

[3] Stepanova, Ekaterina R.; Quesnel, Denise; Riecke, Bernhard E. (2019): Understanding AWE: Can a Virtual Journey, Inspired by the Overview Effect, Lead to an Increased Sense of Interconnectedness? In: Frontiers in Digital Humanities 6/2019.

[4] Meta (2024): Virtual Reality Storytelling Focused on Social Impact. https://about.meta.com/community/vr-for-good

[5] Ryan, Marie-Laure (2015): Narrative as Virtual Reality 2: Revisiting Immersion and Interactivity in Literature and Electronic Media. Baltimore: Johns Hopkins University Press, S. 44.

[6] Pirker, Viera; Pišonić, Klara (Hrsg.) (2022): Virtuelle Realität und Transzendenz: theologische und pädagogische Erkundungen. Freiburg: Herder.

MEEET Lab

Das MEEET Lab ist eine interdisziplinäre Kooperation von zwei Forschungsteams der UZH. Das Team, das an der Theologischen und Religionswissenschaftlichen Fakultät (TRF) angesiedelt ist, steht unter der Leitung von Prof. Dr. Thomas Schlag und Prof. Dr. Beth Singler und ist eng mit dem Universitären Forschungsschwerpunkt «Digital Religion(s)» verbunden.