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Theologische und Religionswissenschaftliche Fakultät

Dystopie und Utopie in virtuellen Welten

Videogames können den Unterricht bereichern und Perspektiven öffnen

Der Blick in die Zukunft ist oft düster: Dystopische Szenarien haben Hochkonjunktur und Weltuntergangsszenarien dominieren den öffentlichen Diskurs. Um diesen bedrohlichen Aussichten zu begegnen und sie zu relativieren, ist es wichtig, sich den Zusammenhang der unterschiedlichen Realitäten unserer Gegenwart und der verschiedenen Zukünfte, die uns bevorstehen, bewusst zu machen. Das Eintauchen in fremde Lebenswelten verändert auch den Blick auf die Zukunft und kann zu neuen Einsichten führen – sei es im Gespräch mit anderen oder durch das Erforschen virtueller Welten.

Von Yves Mühlematter

Wie wir uns die Zukunft vorstellen, wird massgeblich von unseren sozialen Beziehungen, den Medien, die wir konsumieren, und den epistemologischen Voraussetzungen, auf die wir uns verlassen, beeinflusst. Unsere «Bubbles» unterscheiden sich deutlich. Man könnte sogar behaupten, dass wir Menschen in unterschiedlichen Realitäten leben. Die folgende Erzählung soll diesen Punkt verdeutlichen:

Aus dem Blickwinkel einer Person, die auf der Treppe sitzt, blicken wir über das (simulierte, KI-generierte) Ufer des Ganges mit Tempeln auf der rechten Seite, kleinen Booten auf dem Wasser. Auf der Treppe sitzen weitere Personen mit typisch indischer Kleidung, ausserdem ist eine Kuh zu sehen. Die Person, aus deren Blickwinkel wir die Szenerie sehen, hält eine rote Ton-Tasse mit einem hellbraunen Getränk in der Hand.
Auch wenn sie sich am selben Ort aufhalten, leben Menschen in unterschiedlichen Realitäten und blicken in verschiedene Zukünfte. Neue Technologien können dabei helfen, über den Tellerrand zu blicken. Im KI-generierten Bild blickt der Chai-trinkende Autor auf einen virtuellen Ganges. (Bild: DALL-E, Eingabe: «View from behind of a person sitting at the Ganges River at Assi Ghat in Varanasi, holding a typical clay cup with chai in it, looking towards the river»)

Es ist morgens um 7.00 Uhr, die Sonne ist gerade über dem Ganges in Varanasi aufgegangen. Ich gehe wie jeden Morgen während meines Forschungsaufenthalts entlang des Assi Ghats, hole mir beim Chai-Vala einen Chai und schlendere in Richtung Gangesufer auf dem Weg zum Archiv, in dem ich forsche. Am Strassenrand sitzt eine Mutter mit ihren drei Kindern. Ihre Kleider sind dreckig, sie sehen hungrig aus. Vermutlich haben sie draussen geschlafen. In Nordindien bedeutet das im Dezember, dass sie die Nacht bei 5–10°C verbracht haben. Die Lumpen, auf denen sie sitzen, haben ihnen als Decken gedient. In diesem Moment, als ich sie anschaue und bewusst wahrnehme, überkreuzen sich unsere Realitäten. Oder anders ausgedrückt: Die Wahrnehmung dieser Familie dringt für einen kurzen Moment in mein Bewusstsein ein und führt zu einer Störung meiner Realität. In diesem kurzen Moment, in dem sich unsere Realitäten überschneiden, wird die radikale Differenz unserer Lebenswelten offensichtlich. Was für mich eine flüchtige Beobachtung ist, bedeutet für diese Familie das tägliche Überleben. Diese kurze Störung meiner Realität zeigt, wie unterschiedlich unsere Zukünfte sein können. Ich gehe weiter und sippe an meinem Chai. Die Begegnung rückt in den Hintergrund meiner Gedanken. Welche Zukunft haben sie sich wohl damals vorgestellt? In welcher Realität lebt die Familie wohl heute? Das kann nicht mit Sicherheit beantwortet werden, was aber klar ist: Meine Realität unterscheidet sich massiv von ihrer.

Diese Geschichte illustriert, wie unterschiedlich Lebensumstände und Zukünfte sein können. Diese Erkenntnis mag auf den ersten Blick trivial wirken, doch es geht weniger um die Einsicht als um den «kurzen Moment der Störung». Wie verhält sich diese Störung zur sozialen «Bubble»? Was lässt die «Bubble» platzen?

Die Auseinandersetzung mit Zukünften, seien es utopische oder dystopische, öffnet den Blick auf unsere singulären Realitäten. Sie zeigt, wie soziale Milieus und medial vermittelte Idealvorstellungen die Realitäten prägen, von denen aus über Zukunft gesprochen wird. Denken wir zum Beispiel an die Zukunftsentwürfe von Techmilliardären, die Raumschiffe bauen, um den Weltraum zu erkunden und die Menschheit als interplanetare Spezies zu etablieren (wobei Menschheit meist mit «westlich-männlich-amerikanisch» gleichgesetzt wird). Diese Zukunftsvorstellungen werden medial vermittelt, und da Persönlichkeiten wie Musk, Altman und Bezos in den Mainstream-Medien überproportional vertreten sind, scheinen diese Zukünfte uns am nächsten zu sein. Besonders «Cybertopien», die technologisierte Zukünfte beschreiben, in denen die technologischen Möglichkeiten die Probleme der Menschheit lösen – oder sie verstärken –, klingen abenteuerlich und bedienen mit Aufbruchsnarrativen,[1] die auf kolonialen Begehren fussen, unsere Sehnsüchte nach neuen Welten. Es gibt eine unüberschaubare Anzahl an alternativen Zukunftsentwürfen, seien dies klassische Utopien oder Dystopien wie Mores Utopia oder Orwells 1984, klassische Science-Fiction-Romane wie I, Robot und Neuromancer oder zeitgenössische popkulturelle Erzeugnisse wie Star Wars oder Star Trek – alle haben das Potenzial, diese Irritationen der eignen Realität hervorzurufen bzw. anzustossen.

Lernen mit Zombies, radikalen Charismatikern und alternativen Realitäten

Sich mit alternativen Zukunftsentwürfen auseinanderzusetzen, bietet die Möglichkeit, sich über die eigene Realität und die eigene «Bubble» Gedanken zu machen, was im Hinblick auf digital literacy für die Hochschullehre von grossem Interesse ist. Tatsächlich sind Utopien und Dystopien oft nicht primär als Prognosen zu verstehen, sondern als Kritik der Gegenwart und als Skizze einer «besseren» Gesellschaft.[2] Sie versuchen auszumalen, wie die Welt anders sein könnte.[3] Diese Verschränkung von Zukünften und Lebensrealitäten findet sich auch in der Pädagogik wieder, in der man sich mit dem Gegenwärtigen auseinandersetzt, um Zukünftiges zu gestalten. Pädagogik hat folglich eine utopische Komponente, indem sie versucht, die Lernenden von heute für die Zukunft von morgen vorzubereiten.[4]

Um verschiedene Zukünfte in die Gegenwart und den Unterricht zu holen, werden im MEEET Lab verschiedene Zugänge zu alternativen Entwürfen ermöglicht: von der Erschaffung utopisch-dystopischer Bildwelten mit generativen KIs wie DALL-E und Firefly über das Eintauchen in dystopische Zombieshooter, religionskritische Actionspiele bis hin zu cybertopischen Sci-Fi-Spielen. In Far Cry 5 schlüpft man beispielsweise in die Rolle eines Deputy Sheriffs, der einen fundamentalistischen Priester gefangen nehmen soll, in The Last of Us kämpft man in einer Zombie-Dystopie ums Überleben der Menschheit und in Mass Effect ist man als Cyborg unterwegs, um die Menschheit zu retten. Während all diese Videogames in dystopischen Zukünften spielen, handeln We Live Here und Home After War von Heterotopien,[5] die die eigene Gesellschaft spiegeln und eine unmittelbare Störung der eigenen Realität hervorrufen: Das VR-Equipment erlaubt es, in das Leben einer Obdachlosen einzutauchen (We Live Here) oder in das zerbombte Haus einer Flüchtlingsfamilie zurückzukehren (Home After War).

Irritationen erleben, diskutieren und produktiv nutzen

Bei einem Workshop mit Studierenden im MEEET Lab lösten die Spiele und Applikationen sehr unterschiedliche Reaktionen aus. Eine Teilnehmerin sagte nach einer Minute The Last of Us, dass sie ein solches Spiel nicht spielen möchte, weil die Gewalt für sie unerträglich sei. Andere spielten vertieft und waren kaum ins Plenum zurückzuholen. Diese unterschiedlichen Reaktionen sind pädagogisch gesehen sehr interessant, da sie zeigen, woran Studierende anknüpfen, was sie zum Denken bewegt und in welchen Realitäten sie sich bewegen. Gleichzeitig zeigt es, wie befremdlich solche Spiele wirken können.

In der anschliessenden Diskussion über Zukunftsvorstellungen zeigte sich, wie unterschiedlich die Realitäten der Teilnehmer:innen sind. «Shooter» sind für viele Studierende eine Alltagsrealität, was auch einen Einfluss auf ihre Zukunftsvorstellungen hat. Andere kennen diese Spiele nicht und können sich kaum vorstellen, dass es Menschen gibt, die diese Spiele als Hobby oder sogar als Beruf ausüben. Ähnliches gilt für die Heterotopien: Wir wissen sehr wenig über die Realitäten der anderen; sie sind immer aussen, weit weg, anders. Es geht darum, sich darauf einzulassen und zusammen über den Moment der «Störung» ins Gespräch zu kommen. Das ist das Ziel des pädagogischen Settings: Lernende sollen sich mit ihren Zukunftsentwürfen auseinandersetzen und sich darüber austauschen, welche Hoffnungen und Ängste sie für ihre Zukünfte sehen. Dabei lernen sie Alternativen kennen, indem sie von anderen hören, welche Zukünfte diese aus ihren Realitäten heraus entwerfen.

Die Auseinandersetzung mit diesen alternativen Zukünften und Realitäten ermöglicht es Studierenden, sich mit unterschiedlichsten Wirklichkeiten auseinanderzusetzen und über ihre eigene «Bubble» nachzudenken – manchmal platzt die «Bubble» sogar, wenn auch nur für eine kurze Zeit, vielleicht nur bis zum nächsten Schluck Chai.

Weiterführende Informationen

Zum Autor

Dr. Yves Mühlematter ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Universitären Forschungsschwerpunkt (UFSP) «Digital Religion(s)». Er untersucht utopische und dystopische Zukunftsvorstellungen und deren Relevanz für Bildungsprozesse. In inter- und transdisziplinären Kontexten analysiert er, wie solche Narrative entstehen, und erforscht in qualitativen Interviews die Zukunftsvorstellungen von Forschenden. Sein Ziel ist es, die pädagogischen Implikationen dieser Visionen zu verstehen und zu analysieren, ob und wie inter- und transdisziplinäre Zusammenarbeit zu neuen Bildungskonzepten führt.

Anmerkungen (Literatur)

[1]  Selke, Stefan (2023): Technik als Trost. Verheissungen Künstlicher Intelligenz. 1. Aufl. Bielefeld: transcript (Edition transcript), S. 135–184.

[2]  Sargent, Lyman Tower (2021): Utopia Matters! The Importance of Utopianism and Utopian Scholarship. In: Utopian Studies 32 (3), S. 453–477. DOI: 10.5325/utopianstudies.32.3.0453

[3]  Levitas, Ruth (2013): Utopia as Method. The Imaginary Reconstitution of Society. Basingstoke, Hampshire, New York: Palgrave Macmillan. Online verfügbar unter https://catalogue.bnf.fr/ark:/12148/cb43675683r

[4]  Steffel, Matthias (2023): Pädagogik und Utopie. Historisch-systematische Rekonstruktionen zu einem denknotwendig ungeklärten Verhältnis. Paderborn: Brill Schöningh.

[5]  Foucault, Michel (2002): Andere Räume. In: Karlheinz Barck (Hrsg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik; Essais. 7. Aufl. Leipzig: Reclam (Reclam-Bibliothek, 1352), S. 34–46.

MEEET Lab

Das MEEET Lab ist eine interdisziplinäre Kooperation von zwei Forschungsteams der UZH. Das Team, das an der Theologischen und Religionswissenschaftlichen Fakultät (TRF) angesiedelt ist, steht unter der Leitung von Prof. Dr. Thomas Schlag und Prof. Dr. Beth Singler und ist eng mit dem Universitären Forschungsschwerpunkt «Digital Religion(s)» verbunden.