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Von David Atwood, Antonius Liedhegener und Jens Köhrsen
Wir leben in einer hochdifferenzierten Gesellschaft, in der verschiedene Lebensbereiche ihre ganz eigenen Funktionsweisen ausgebildet haben. Dennoch sind wir es gewohnt, dass viele unserer gegenwärtigen Schlüsselthemen und gesellschaftliche Herausforderungen über einen einzelnen Bereich hinausgehen: So müssen z. B. Banken durch staatliche Kredite gerettet werden, die Politik ist von der weltweiten Konjunktur abhängig und die Klimaveränderung macht ein entschlossenes Vorgehen von Politik und Wirtschaft notwendig.
Auch der Bereich Religion ist von dieser Verflechtung der Gesellschaftsbereiche und ihren Wechselwirkungen betroffen: Das in den jüdischen und muslimischen Traditionen wichtige Schächten von Tieren ist im schweizerischen Tierschutzgesetz untersagt, und das Bauen von Minaretten ist verfassungsrechtlich verboten. Auf der anderen Seite ist der gemischtgeschlechtliche Schwimmunterricht in der Schule obligatorisch – eine Dispensation aufgrund religiöser Gründe ist nicht (mehr) möglich.
Unsere gegenwärtige Kultur ist wesentlich durch die Verflechtung oder gar Vermischung und partielle Verschmelzung verschiedener Gesellschaftsbereiche wie Religion, Politik, Recht, Ökologie und Wirtschaft gekennzeichnet. Um dieses Ineinander von gesellschaftlicher Ausdifferenzierung und Vermischungen zu verstehen und zu beschreiben, benötigt es verschiedene Disziplinen und Perspektiven, die sich gegenseitig bereichern und zuweilen auch irritieren. Nur so kann man die Komplexität heutiger Gesellschaft wissenschaftlich erfassen und erklären.
2008 haben sich deshalb die Universitäten Basel, Lausanne, Luzern und Zürich sowie das Collegium Helveticum zusammengeschlossen und das trans- und interdisziplinäre Zentrum für Religion, Wirtschaft und Politik (ZRWP) gegründet. 2016 ist mit der Universität Fribourg eine weitere Trägerinstitutionen hinzugekommen. Das ZRWP hat der fächerübergreifenden Forschung und Lehre mit dem Fokus auf Religion, Wirtschaft und Politik einen Schub verliehen und trägt anhaltend zum besseren Verständnis der Verflechtungen zwischen diesen drei Gesellschaftsbereichen bei. Ein wesentliches Element in diesem Zusammenhang ist, dass Forschung und Lehre am ZRWP eng aufeinander bezogen sind.
Nicht nur das Verstehen und Erklären sind Ziele des ZRWP. Es gehört auch zum Selbstverständnis des Forschungszentrums, Konsequenzen aus den Analysen zu ziehen und Einschätzungen zu verantwortungsvollem gesellschaftlichem Handeln aus ihnen abzuleiten. Ganz nach dem Motto: «Vernetzt forschen – verantwortlich handeln». Wiederholt hat sich das ZRWP in Anlässen, Publikationen und Lehrveranstaltungen zum Beispiel mit Fragen rund um die Konzernverantwortungsinitiative, die Abstimmung zum Verhüllungsverbot in der Schweiz oder die Rolle von Religion im Klimaschutz beschäftigt.
Die Zielsetzung, durch interdisziplinäre Forschung und Lehre gesellschaftliche Verantwortung wahrnehmbar und gestaltbar zu machen, zeigt sich vor allem im Masterstudienprogramm «Religion, Wirtschaft und Politik», das mit der Gründung des ZRWP 2008 ins Leben gerufen wurde. Über einhundert Studierende haben das Programm schon absolviert. Sie arbeiten heute in den verschiedensten Bereichen: bei unterschiedlichen Medien, in politischen Institutionen und in der öffentlichen Verwaltung, in internationalen Organisationen, in Kirchen und religiösen Gemeinschaften und Organisationen und in der Wissenschaft.
Der Masterstudiengang vermittelt sowohl ein fundiertes Basiswissen in den drei Bereichen Religion, Wirtschaft und Politik als auch ein interdisziplinäres Denken verbunden mit einer vielfältigen Methodenkompetenz, die interdisziplinäres Forschen auf Master- und Doktoratsebene ermöglicht. Mit ihrem Masterabschluss verfügen die Studierenden des ZRWP über ein spezifisches, einzigartiges Profil, welches sie auch auf dem Arbeitsmarkt zu attraktiven Bewerber:innen macht.
Das ZRWP ist nicht nur methodisch vielseitig, sondern auch an drei unterschiedlichen Standorten mit eigenen Kernkompetenzen und Schwerpunkten angesiedelt.
Der in Luzern federführende Politikwissenschaftler und Zeithistoriker Antonius Liedhegener fokussiert u. a. auf Themen wie Politik und Religion in liberalen Demokratien, staatliche Religionspolitik, Religion und soziale Identität und zeitgeschichtliche Katholizismusforschung. Liedhegener und sein Team forschen empirisch. Sie arbeiten zudem eng mit der St. Charles Society zusammen. Gemeinsam werden Anlässe wie «Buch im Fokus» und «Thema im Fokus» als Science-to-Public-Events etwa jüngst zu Religion und Populismus angeboten. Das jüngste Luzerner Format ist die MA RWP-Lecture, in der es ganz konkret um Beispiele für verantwortliches Handeln in Bereichen wie der «Black Lives Matter»-Bewegung, dem interreligiösen Dialog oder der Aussenpolitik der Schweiz geht. Für den Sozialethiker Peter Kirchschläger, der das Zentrum in der dortigen Theologie vertritt, stehen ethische und speziell wirtschaftsethische Aspekte sowie die Digitalisierung im Zentrum.
In Basel beschäftigen sich der Soziologe und studierte Wirtschaftswissenschaftler Jens Köhrsen und seine Mitarbeiter:innen vor allem mit dem Zusammenwirken von Religion und ökologischen Herausforderungen; beispielsweise mit der Reaktion von Schweizer Religionsgemeinschaften auf die Herausforderung des Klimawandels. Ebenfalls untersucht das Team, was für soziale Innovationen – etwa neue Formen des Zusammenlebens – Ökodörfer entwickeln und wie sie diese in die breitere Gesellschaft tragen.
In Zürich liegt der inhaltliche Fokus auf dem Schnittfeld von Religion und Öffentlichkeit. Der Religionswissenschaftler und Wissenshistoriker David Atwood erforscht mit seinem Team u. a. Formen spiritueller oder religiöser Praktiken am Arbeitsplatz, Anerkennungsprozesse von Religionsgemeinschaften oder rechtliche Regulierungen von Religion(en). Andererseits widmen sich die Mitarbeiter:innen am Zürcher Standort auch Fragen nach «dem Religiösen» im Staat und untersuchen, wie «politische Religion» etwa in Form von Nationalmythen oder sakralen Handlungen innerhalb des Staatswesens (z. B. Amtseide) sichtbar wird. Ein weiterer Schwerpunkt stellt die Erforschung von Religion und Landschaft dar.
Das ZRWP wird sich zukünftig – neben dem Kerngeschäft des Masterstudienprogramms und den verschiedenen Forschungsprojekten – verstärkt dem wissenschaftlichen Austausch mit der Öffentlichkeit widmen, etwa durch Tagungen zur Schweizer Religionspolitik mit Expert:innen und Praktiker:innen aus Politik, Religion und Rechtswesen. So wird die enge Vernetzung von Religion, Wirtschaft und Politik nicht nur unter den Studierenden und Forschenden diskutiert und erforscht, sondern durch das ZRWP auch in das Bewusstsein der Bevölkerung und der verschiedenen Akteur:innen aus Politik und Gesellschaft gerufen – um gemeinsam verantwortungsvoll zu handeln.
Prof. Dr. David Atwood ist Professor für Religion und Öffentlichkeit an der Universität Zürich und geschäftsführender Direktor des ZRWP.
Prof. Dr. Antonius Liedhegener ist Professor für Politik und Religion an der Universität Luzern und Vorsitzender der Studiengangleitung des ZRWP.
Prof. Dr. Jens Köhrsen ist Professor für Religion und Wirtschaft an der Universität Basel und Mitglied der Studiengangleitung des ZRWP.